Mehr schlecht als recht hat sich England bei der WM 1998 in Frankreich durch die Gruppenphase gemogelt: Ein 2:0-Sieg gegen Tunesien, eine 1:2-Pleite gegen Rumänien und schliesslich der erlösende 2:0-Sieg im Alles-oder-nichts-Spiel gegen Kolumbien. Im Achtelfinal wartet nun aber Argentinien. Seit dem Falkland-Krieg und dem WM-Viertelfinal von 1986 mit Diego Maradonas Hand Gottes längst kein gewöhnliches Fussballspiel mehr.
Die Hoffnungen der «Three Lions» liegen auf den Schultern von David Beckham, Paul Ince und Alan Shearer. Und ein bisschen auch auf Michael Owen. Der 18-jährige Stürmer, der erst im Februar in der WM-Vorbereitung gegen Chile zu seinem Länderspiel-Debüt gekommen ist, hat sich mit seinem Joker-Tor gegen die Rumänen in den Fokus geschossen.
Wie schon gegen Kolumbien bringt England-Trainer Glenn Hoddle seinen Hoffnungsträger auch gegen die «Gauchos» von Beginn an. Und der Wunderknabe rechtfertigt das Vertrauen. Erfrischend dynamisch, unbekümmert, kaum zu bändigen: Owen legt los wie die Feuerwehr.
In der zehnten Minute holt der Liverpool-Stürmer nach einer filmreifen Flugshow im Strafraum einen Penalty heraus, den Routinier Alan Shearer souverän zum 1:1 verwandelt. Sechs Minuten später folgt der Auftritt, der ihn endgültig zu «Saint Michael», zum «heiligen Michael», macht.
Nach einem Steilpass von David Beckham sprintet Owen los, über den halben Platz. Das etwas zu grosse Trikot beginnt zu flattern. Owen lässt José Antonio Chamot aussehen wie einen Schulbuben, an Roberto Ayala fliegt er förmlich vorbei, dann schlenzt er den Ball vorbei am chancenlosen Argentinien-Keeper Carlos Roa ins lange Eck.
Einen Augenblick lang herrscht absolute Stille im Stade Geoffroy-Guichard von St.Etienne, dann brandet bei den Engländern grenzenloser Jubel aus. «What a goal», schreit der englische TV-Reporter begeistert ins Mikrofon.
Trotz der 2:1-Führung verliert England diesen Achtelfinal noch. Nach einer Roten Karte gegen David Beckham und einem genialen Freistosstrick der Argentinier natürlich im Elfmeterschiessen.
Owen trifft dort zwar im Stile eines Routiniers souverän zum 3:3, doch dann verschiesst der fünfte Schütze David Batty und England versinkt – wieder einmal – im Land der Tränen.
Doch der Stern des Michael Owen ist definitiv aufgegangen. 1998 und 1999 wird er Torschützenkönig der Premier League und es flattern die ersten hochdotierten Angebote bei Liverpool rein. Doch noch bleibt Owen und er entwickelt sich zu einem der torgefährlichsten Stürmer Europas. Wären da nicht immer wieder diese Verletzungen.
Bei der WM in Japan und Südkorea 2002 gehört Owen wieder zu den besten seines Teams, das Viertelfinal-Aus gegen Brasilien kann er aber nicht verhindern. Owen wechselt 2004 mit 24 Jahren zu Real Madrid, seinen Zenit hat er da bereits überschritten.
Liverpool gewinnt ausgerechnet im ersten Jahr nach seinem Abgang zum fünften Mal die Champions League, während Owen in Madrid nie glücklich wird. Spätestens mit dem Kreuzbandriss bei der WM 2006 gegen Schweden ist sein Stern komplett verglüht.
Erst 2013 tritt Owen nach längeren Gastspielen bei Newcastle United, Manchester United und Stoke City zurück. In insgesamt 89 Länderspielen für England schiesst der Stürmer 40 Tore. Damit ist er in der ewigen Torschützenliste der englischen Nationalmannschaft auf dem sechsten Platz. Seine Landsleute erinnern sich vor allem an eines; ans Wundertor gegen Argentinien.
«Es war ein grossartiges Turnier für mich», erinnert sich Owen später. «Ich war 18 Jahre alt und habe gedacht, dass ich eine kleine Rolle spielen könnte. Erwartet habe ich nur ein oder zwei Einwechselungen. Jetzt ist das Tor schon so oft im Fernsehen wiederholt worden. Es war ganz sicher ein Treffer, der mein Leben und die Sichtweise über mich verändert hat.»