«Schau, schau, schau! Was ist da drin? Da ist a Reh drin! A Reh im Zielschuss!» Armin Assinger, Kommentator des ORF, traut seinen Augen kaum. Kurz vor dem Ziel auf der «Saslong» taucht neben Abfahrer Kristian Ghedina wie aus dem Nichts ein Reh auf! So etwas hat selbst Ski-Legende Assinger noch nicht erlebt.
Ghedina, welcher schon über 100 Sekunden unterwegs ist und gerade über die verschneiten Wiesen der «Ciaslat» rast, denkt sich wohl: «Auch das noch!» Denn der Start ins Rennwochenende lief für den Lokalmatador alles andere als wunschgemäss. Am Tag vor dem ersten Rennen wird beim Norditaliener während einer Motor-Show in Bologna ins Auto eingebrochen. Entwendet werden dem Rennfahrer ausgerechnet die Skischuhe.
So muss der Bestohlene kurzerhand nach Österreich fahren, um sich einen neuen Innenschuh anfertigen zu lassen. Im drei Autostunden entfernten Asserferner-Tal kennt Ghedina nämlich einen Schuhmacher, der Spezialist für Einlagen und das Schäumen von Skischuhen ist. Was für eine Schikane! Und das am Tag vor seiner Lieblingsabfahrt. Vier Mal hat der sympathische Speed-Spezialist hier schon gewonnen. Nur ein Sieg fehlt ihm noch, um den Rekord von Franz Klammer zu egalisieren.
Doch Kristian Ghedina hätte auch ohne diesen Zwischenfall nicht zu den ganz grossen Favoriten gezählt. Der Lokalmatador ist mit seinen 35 Lenzen etwas in die Jahre gekommen. Seit drei Jahren und dem letzten Triumph in Gröden hat er kein Weltcuprennen mehr gewonnen.
Sein insgesamt 14. Weltcup-Sieg oder ein weiterer Podestplatz sollte denn auch an diesem Dezember-Samstag nicht hinzukommen – Kristian Ghedina beendet das Rennen auf dem kaum erwähnenswerten 12. Rang. Doch mit dem Reh-Intermezzo hat das Drehbuch der Gröden-Abfahrt 2004 dem Abfahrer dennoch eine ganz besondere Rolle zugedacht.
Kurz sieht es beinahe so aus, als ob das verirrte Tier ein Rennen mit dem Ski-Fahrer aufnehmen würde, doch Ghedinas Geschwindigkeit hat mit Bambi so viel zu tun wie Speedy Gonzales mit Garfield. Der Italiener ist rasend schnell unterwegs und lässt den Grödner Waldbewohner zum Glück links liegen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte es bei diesem Tempo einen Crash gegeben.
Ghedina zieht die letzten Meter in der Hocke durch und kommt unversehrt im Zielraum an. Sofort zeichnet sich ein Lächeln im Gesicht des Italieners ab: Mit dem Finger zeigt der 35-Jährige auf seinen ungewollten Sparring-Partner und scheint sich darüber zu amüsieren. Bis das Reh den Weg ins Ziel findet, dauert es noch ein wenig. Der Vierbeiner ist hypernervös und rennt immer wieder ins Fangnetz.
Nach einer Weile findet aber auch der ungebetene Gast den Weg in den Zielraum. Er wird nicht nur mit tosendem Applaus empfangen, sondern sogleich auch eingefangen. Gewonnen wird das Rennen von Aussenseiter Max Rauffer, welcher den Schweizer Jürg Grünenfelder mit nur fünf Hundertstelsekunden Vorsprung auf Rang 2 verdrängt. Die Favoriten haben wenig zu bestellen, das Rennen avanciert zu einer unberechenbaren Wind-Lotterie. Doch das Resultat ist sowieso sekundär, Gröden 2004 wird hauptsächlich wegen Ghedinas Rencontre mit dem Reh in Erinnerung bleiben.
Dass die Beinahe-Katastrophe positiv in den Köpfen hängenbleibt, hat zu einem grossen Teil mit der coolen Art von Kristian Ghedina zu tun. Auf die Frage, ob er denn das Reh überhaupt gesehen habe, antwortet er: «Und ob ich es gesehen habe! Ich habe ihm gesagt: ‹Hey, was machst denn du hier?›, ich habe mir sogar überlegt anzuhalten und es in den Arm zu nehmen», schildert der Ski-Rennfahrer seine Erlebnisse weiter, doch «dann habe ich mir überlegt, dass es doch vielleicht besser wäre, das Rennen zu beenden. Und schliesslich haben nicht alle die Möglichkeit, in einem Weltcup-Rennen neben einem Tier Ski zu fahren.»
Auch das Reh kommt glimpflich davon: Nachdem es eingefangen wurde, lassen die Helfer das Tier ausserhalb des Zielraums wieder frei. Die allein gelassenen Rehkitze im verschneiten Grödner Wald können ihre Mutter schnell wieder in die Hufe schliessen: Ein richtiges Happy End! Nicht wie bei Bambi, denn dort kommt Mama nicht mehr zurück. Ghedina ist eben kein böser Jäger, sondern ein liebenswürdiger Skifahrer.