Der grosse Traum von Walter Steiner geht in Sapporo nicht in Erfüllung. Und zwar hauchdünn nicht: Mit dem kleinstmöglichen Abstand von einem Zehntelpunkt verpasst Walter Steiner 1972 von der Grossschanze den Olympiasieg. Er muss dem Polen Wojciech Fortuna den Vortritt lassen.
«Ich habe Silber gewonnen und nicht Gold verloren», betont der 1990 nach Schweden ausgewanderte Toggenburger noch immer. Schliesslich klassierten sich insgesamt vier Springer innerhalb eines Punktes.
Doch Steiner hätte allen Grund zu hadern. Im Training zaubert der «Vogelmensch», wie Steiner wegen seinen unglaublichen Flugfähigkeiten genannt wird, einen 100-Meter-Sprung nach dem anderen in den Schnee. Doch zu Beginn des Probedurchgangs beginnt es zu schneien und während dem Wettkampf bläst plötzlich ein stark wechselnder Wind.
Beim ersten Sprung muss deshalb von der untersten Luke gestartet werden. Steiner landet bereits bei 94 Meter und scheint auf Zwischenrang 13 bereits zu den Geschlagenen zu gehören. «Nach dem Schneefall stockte die Anlaufspur. Ich und viele andere wurden überrascht, verloren das Gleichgewicht und sprangen nicht optimal», erinnert sich Steiner 2007 in der «Zürichsee-Zeitung».
Im zweiten Durchgang packt Steiner dann aber seinen besten Sprung aus. Der gelernte Holzbildhauer landet bei offiziellen 103 Meter. Noch immer hält sich aber das Gerücht, dass der Weitenmesser bereits die Kelle für 103,5 Meter hochhalten will. Das würde für den Olympiasieg reichen, doch unter DDR-Druck wird die Marke herunterkorrigiert.
«Das habe ich erst Jahre später erfahren», so Steiner. Und so geht Gold an den erst 19-jährigen polnischen Aussenseiter Wojciech Fortuna, dem nach seinem 111-Meter-Satz beim ersten Sprung schwache 87,5 Meter aus dem zweiten Durchgang für den Olympiasieg reichen.
Steiner wird noch im selben Jahr entschädigt. Im März 1972 gewinnt der erste Schweizer Olympia-Medaillengewinner im Skispringen Gold bei der Skiflug-WM im damals noch jugoslawischen Planica. Fünf Jahre später doppelt er in Vikersund nach. 1978 muss der «Vogelmensch» seine Karriere wegen anhaltenden Knieproblemen nach einem Kreuzbandriss beenden.
Nach dem Ende seiner sportlichen Laufbahn bleibt Steiner dem Skispringen zunächst treu. Im Winter ist er als Wachser und Service-Mann in Deutschland, später als Assistenztrainer in der Schweiz tätig. Im Sommer arbeitet er in seinem angestammten Beruf als Holzbildhauer.
1990 zieht Steiner, dem wegen seiner Leseschwierigkeiten eine längere Trainerkarriere verwehrt bleibt, ins schwedische Falun, wo er heute noch wohnt. Der Toggenburger geniesst die Anonymität: Fischen, Wandern, Velofahren, Pilze suchen und das winterliche Kraftraining halten ihn fit. 2013 wird Steiner schliesslich zum dritten Mal Weltmeister. Er gewinnt bei der inoffiziellen Langlauf-WM in Asiago sogar einen kompletten Medaillensatz.