«100 Prozent quer», lautet das Motto im Januar 1995 im sankt-gallischen Eschenbach. Das Dorf nahe des oberen Zürichsees – mein Heimatdorf – richtet die Weltmeisterschaft im Radquer aus. Seit Jahren findet im 5000-Seelen-Dorf am Hang zwischen Kiesgrube und Bannwald ein Querfeldein-Rennen statt, nun steht aber die WM an.
Das ganze Dorf muss mithelfen. Und das ist nicht einfach so daher gesagt. OK-Präsident Edwin Rudolf hat eigentlich bei Militär-Chef Kaspar Villiger um Unterstützung gebeten, doch weil wegen der Armee-Reform keine WKs stattfinden und die Rekrutenschule noch nicht begonnen hat, müssen die Eschenbacher Vereine ran. Und so komme auch ich zum Zug, als A-Junior des örtlichen Fussballklubs.
20'000 Zuschauer werden fürs WM-Wochenende erwartet. Wie die Zeitung «Sport» im Vorfeld berichtet, werden sie gemäss Hochrechnungen 13'000 Bratwürste, 7000 Cervelats, 8000 Halbliter-Flaschen WM-Wein und 5000 «Kafi Quer» konsumieren.
Meinen Einsatz leiste ich allerdings nicht in der Festwirtschaft, sondern als Streckenposten. Beim Espoir-Rennen am Samstag – hier gehen die hoffnungsvollsten Nachwuchstalente an den Start – stehe ich an einer leichten Steigung und schaue, dass die Zuschauer nicht zum falschen Zeitpunkt die Strecke überqueren.
Es ist ziemlich langweilig, die Zuschauermassen werden auch erst für Sonntag und das Rennen der Profis erwartet. So stehe ich mir in meinen bereits völlig von Dreck verschmierten Gummistiefeln die Beine in den Bauch. Da ich mir am Freitagabend beim Blaumeisen-Konzert den rechten Knöchel übertreten habe und er dick geschwollen ist, ist das doppelt mühsam. Dass der noch vor zwei Wochen schneebedeckte Boden nach dem Sturm vom Donnerstag völlig aufgeweicht ist und immer matschiger wird, macht die Sache auch nicht einfacher.
Obwohl es meinem Knöchel nicht viel besser geht – später wird ein Anriss des Aussenbandes diagnostiziert – gehe ich am Sonntag ans Profirennen. Als ich aus der Haustüre trete, staune ich nicht schlecht. Die ganze Quartierstrasse ist vollgestellt mit Wohnmobilen und Campern. Die Autonummern verraten es: Aus Belgien, Holland, Frankreich und Italien sind die Quer-Fans für das grosse Spektakel angereist. Ich steige in die immer noch dreckigen Gummistiefel und humple in Richtung WM-Gelände.
Von Weitem sieht man die Strecke, die damals als schwierigste der Welt gilt. 2,9 Kilometer ist sie lang, 90 Meter Höhendifferenz gilt es pro Runde zu überwinden. Auch eine Fahrt durchs Festzelt haben die Organisatoren eingeplant, was für ziemlich viel Wirbel sorgt. «Zu viel Show», finden die meisten Radsport-Fans.
Das fieseste Hindernis ist der Steilhang hinter der Kläranlage: 62 Prozent Steigung. Selbst bei trockenen Verhältnissen kommen die Quer-Cracks da mit dem geschulterten Rad an den Rand der Belastungsgrenze. Im Matsch ist es eine einzige Qual. Bis zu den Knöcheln sinken die Fahrer ein, der braune Schlamm entwickelt zudem eine Sogwirkung, die noch mehr Kräfte verbraucht.
«Im Schlamm sind alle Fahrer gleich», lautet damals ein oft zitierter Satz. Gemeint ist natürlich braun. Vom Dreck, der den Profis unentwegt ins Gesicht spritzt. Einer im Feld ist aber doch ein bisschen anders. Dieter, genannt «Didi», Runkel. Im Schlamm fühlt sich der Solothurner besonders wohl.
Deshalb und weil er in dieser Saison schon acht Quers gewonnen hat, zählt er zu den Topfavoriten. Neben Landsmann Beat Wabel, dem Italiener Daniele Pontoni, dem Tschechen Radomir Simunek und dem Holländer Richard Groenendaal. Auch Altmeister Beat Breu ist noch mit von der Partie. Der Publikumsliebling und begeisterte Quer-Fahrer bestreitet seine achte WM. Auch mein Herz schlägt für den leicht verrückten St.Galler. Doch er bleibt als 29. chancenlos.
An der Spitze verkommt das Rennen, das vom Schweizer Fernsehen, Eurosport und zwölf weiteren Stationen live übertragen wird, zur One-Man-Show. Teamkollege Roger Honegger bolzt in der ersten Runde Tempo, ab Runde 2 übernimmt Top-Favorit Runkel das Zepter. Unnachahmlich kämpft sich der starke Läufer durch den Matsch und kommt nach etwas weniger als einer Stunde solo an. Schon bei der letzten Fahrt durchs Festzelt reisst er die Arme hoch. 37 Sekunden beträgt sein Vorsprung auf Groenendaal, Wabel macht den Schweizer Triumphzug mit der Bronzemedaille perfekt.
Runkel steigt im Ziel vom Rennrad und küsst den Asphalt. Von Bundesrat Villiger erhält er die Goldmedaille. Der ehemalige Strassenfahrer ist der erste Schweizer Quer-Weltmeister seit Pascal Richard 1988. Aber leider auch der letzte. Die Radquer-Rennen büssen in den folgenden Jahren kontinuierlich an Popularität ein, obwohl die WM in Eschenbach ein voller Erfolg ist.
Wie in vielen Randsportarten fehlt das Geld der Sponsoren. Ausserdem kommt mit dem Mountainbike-Sport ernsthafte Konkurrenz auf. Die Aufnahme ins Programm der olympischen Winterspiele als letzter Rettungsanker verweigert das IOC mangels Affinität zu Schnee und Eis.
Der Niedergang des Quersports Ende der 90er-Jahre betrifft auch Eschenbach. Im Januar 1999 wird auf der WM-Strecke zum vorderhand letzten Mal ein Quer ausgetragen. Erst im Dezember 2014 schlüpfe ich wieder einmal in meine Gummistiefel: Im Rahmen der neuen EKZ CrossTour findet erstmals wieder ein Radquer in Eschenbach statt. Und 2020, nach einem Vierteljahrhundert, werden an diesem Wochenende in Dübendorf wieder WM-Rennen in der Schweiz ausgetragen.
Tolle Schilderung deiner Erinnerungen. Well done, Philipp!