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«Europa und die USA haben ihre besten Zeiten nicht hinter sich»

Thomas Straubhaar. Der in Unterseen BE geborene Ökonom lehrt seit 1999 an der Universität Hamburg. Bild: AP dapd
Ökonom Thomas Straubhaar

«Europa und die USA haben ihre besten Zeiten nicht hinter sich»

Der Schweizer Ökonom Thomas Straubhaar lehrt an der Uni Hamburg. Er sagt, wieso er vom Markt- zum Staatsgläubigen geworden ist und wieso das Schweizer Volk die Masseneinwanderungsinitiative angenommen hat, obwohl sie wirtschaftsfeindlich ist.
31.03.2014, 10:2331.03.2014, 11:49
Roman seiler, aargauer zeitung
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Herr Straubhaar, die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» bezeichnet Sie als «Konvertit». Sie seien vom «Markt- zum Staatsgläubigen» geworden. Stimmt das? 
Thomas Straubhaar: 
Ich stelle infrage, dass der Gegensatz von Marktgläubigkeit Staatsgläubigkeit sein soll. Aber Konvertit ist richtig. Vor der Finanzkrise ging ich grundsätzlich davon aus, dass Deregulierung mehr Wohlstand generiert. Heute bin ich mir nicht sicher, ob dies in jedem Fall zutrifft.

Der Staat muss also den Schiedsrichter spielen?
Ja. Es braucht einen Kontrolleur, einen Regulator, der auch die Wünsche und Erwartungen der breiten Bevölkerung abbildet. Zudem spielte der Staat – zu dem ich auch die Zentralbanken zähle – in der Finanzkrise als letzter Retter eine gute Rolle. Im Finanzwesen braucht es weitere und vor allem bessere Regulierungen, insbesondere zur Stärkung der Eigenkapitaldecke von Banken. Vor der Finanzkrise wäre ich wohl eher dafür gewesen, die SBB zu privatisieren. Dahinter setze ich heute ein grosses Fragezeichen. In Grossbritannien war der Service public danach schlechter.

In der Schweiz wird über die Einführung einer Einheitskasse im Gesundheitswesen abgestimmt. Entspricht dies Ihren Vorstellungen einer «Reregulierung»?
Nein. Im Gesundheitswesen kommt man nicht darum herum, für einen breiten Teil der Bevölkerung den Zugang zu einer Grundversorgung sicherzustellen. Dies kann man nicht nur den Marktkräften überlassen. Trotz aller Mängel funktioniert das in der Schweiz mit ihren vielen Kassen relativ gut. Es braucht also keine Einheitskasse. Viel wichtiger für die Kosteneffizienz wäre eine gewisse Zentralisierung im Spitalbereich. Der Schweizer Föderalismus ist das grössere Problem als der Wettbewerb unter den Kassen.

Thomas Straubhaar

Der in Unterseen BE geborene Ökonom lehrt seit 1999 an der Universität Hamburg. Seit 2005 ist Thomas Straubhaar zudem Direktor des von ihm gegründeten privaten Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts. Er verlässt es im Herbst, um sich vermehrt der Forschung zu widmen. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. In seiner Freizeit treibt er gerne Sport und fährt im Winter Ski. (SEI) 
Ein Artikel von Aargauer Zeitung
Aargauer Zeitung

Sie haben also Ihren Glauben, aber nicht die Hoffnung verloren?
Genau. Heute streiten wir in Deutschland unter Ökonomen heftig, weil sich aus meiner Sicht seit der Finanzkrise ein paar lange gültige Theorien als unbrauchbar herausgestellt haben. Daher kann man doch nicht einfach an ihnen festhalten. Ein Beispiel ist das Thema Inflation

Warum?
Gemäss der Theorie des Monetarismus, einer Grundlage der neoliberalen Politik, führen von Notenbanken aufgeblähte Geldmengen, wie wir sie heute haben, zu einer Geldentwertung. Passiert ist aber das Gegenteil. Die SNB hat in ihrer neuesten Prognose die Inflationserwartung erneut abgesenkt.

Die Notenbanken blähten ihre Geldmengen auf, um die Folgen der Finanzkrise abzufedern. Eine solche dauert in der Regel zehn Jahre. Wo stehen wir heute?
Auch wenn das hochspekulativ ist: Wir dürften jetzt etwa in der Halbzeit stehen. Der Finanzsektor ist noch nicht wirklich restrukturiert. Viel zu viele Banken in Europa verfügen über kein funktionierendes Geschäftsmodell. Daher werden noch einige vom Markt verschwinden, auch grössere Banken. Wer glaubwürdig überleben will, muss die Eigenkapitaldecke anheben. Weil die Finanzinstitute auch ihre Bilanzsummen runterfahren, vergeben sie weniger Kredite. Darunter leidet die Wirtschaft. Das bedeutet weniger Wachstum als vor der Finanzkrise.

Die Zukunft gehört Asien und Lateinamerika. Haben Europa und die USA den Zenit überschritten?
Überhaupt nicht. Mittel- und langfristig werden die aufstrebenden Schwellenmärkte wichtiger. Daraus kann man nicht die Schlussfolgerung ziehen, in Europa und in den USA gingen die Lichter aus. Das zeigen die aktuellen Verwerfungen in Ländern wie Argentinien, Kolumbien, Russland, Thailand, Türkei oder Venezuela. Das Kapital floss dort sofort ab, als die Hoffnung auf einen Aufschwung in Europa und in den USA anstieg.

Geht es in europäischen Krisenländern wirklich bergauf?
In der realen Wirtschaft in Europa ist eindeutig ein Aufschwung erkennbar, gerade in Ländern wie Portugal und Spanien. Spanien wird in den nächsten Jahren wieder eine Erfolgsgeschichte. Sie haben Energie, wegen der hohen Arbeitslosigkeit billigere Arbeitskosten und vergleichsweise billiges Kapital. Auch wenn es schwieriger wird: Europa und die USA haben ihre besten Zeiten nicht hinter sich.

Der Schweiz geht es blendend. Dennoch werden Schweizer zu Konvertiten und nehmen – gegen die Wirtschaft – Initiativen an wie die gegen die Zuwanderung. Warum?
Gemäss der herrschenden Lehre der Liberalen, der neoklassischen Ökonomie, müssten sich Einkommen zwischen Ländern und innerhalb von Gesellschaften angleichen. Es müsste zur Konvergenz kommen. Sie findet nicht statt. Das führt vielerorts zu Frustration und Unzufriedenheit mit offenen Grenzen. 

Die Ungleichheit nimmt zu – auch in der Schweiz?
Nein, dank der hohen Beschäftigungsquote – nicht zuletzt dank des guten Bildungssystems – gilt das nicht innerhalb der Schweiz. Aber die Ärmeren holen nur langsam auf. Zunehmend mehr Leute finden, das Leben werde härter, ungemütlicher und unsicherer. 

Im übrigen Europa ist dies anders?
Dort müssen Menschen mehr strampeln, mehr arbeiten und holen dennoch nicht auf. Ihre Kinder haben nicht mehr die gleichen Chancen wie die von denen, die ganz oben sind. Wenn die Schere zwischen Arm und Reich zementiert und gar noch vererbt wird, verliert das Versprechen, dass die Flut alle Boote hebe, seine Glaubwürdigkeit. Wenn der Liberalismus in der heutigen Spielform sein Versprechen nicht erfüllt, muss man darauf eine Antwort finden.

Gibt es eine?
Ja. Den deutschen Unternehmen geht es fantastisch. Daher sagen wir Arbeitgebern, die wir beraten, sie sollen einen Teil ihres Erfolgs freiwillig den Belegschaften zukommen lassen. Ein Super-Beispiel ist die Automobilindustrie. Audi, BMW Porsche oder Volkswagen erzielen Rekordergebnisse, was den Chefs die höchsten Gehälter aller Zeiten gebracht hat. Gleichzeitig erhalten alle Mitarbeiter, unabhängig vom Einkommen, einen Jahresbonus von bis zu 8000 Euro. Erfolgsprämien sollten auch bei anderen Betrieben zu einer Selbstverständlichkeit werden – und zwar für alle, nicht nur für die Manager.

Zurück zur Masseneinwanderung: Was führt dazu, dass die Schweizer ihr Land abschotten?
Im Innersten sind sich die Schweizer bewusst, dass sie im paradiesischsten aller Paradiese wohnen. Aber die Unsicherheit steigt, ob das in fünf oder zehn Jahren der Fall sein wird. Die Fallhöhe ist hoch und entsprechend gross die Angst vor dem Absturz. Das Ausland bekämpft den Sonderfall und versucht die Schweizer vom hohen Thron zu werfen. Im Inland bedeutet Globalisierung, dass in Firmen ein immer grösserer Teil des Managements ausländische Wurzeln hat.

Diese Zuwanderung ist ja gewollt.
Das ist für die Volkswirtschaft insgesamt auch super. Nur haben diese Manager oft kein Verständnis für Schweizer Eigenarten. Trotz aller Vorteile, welche die volkswirtschaftlich unverzichtbare Internationalisierung des Managements hat; in den Unternehmen muss noch jemand für die Bewahrung der Interessen der einheimischen Belegschaften einstehen. In einer solchen Situation können Konvertiten hilfreich sein. Wer mit alten Ideologien in diesem neuen Umfeld argumentiert, vergrössert die Probleme. Es gilt proaktiv zu verhindern, dass es zu Brüchen kommt. Themen wie partiell negative Folgen der Zuwanderung und die Internationalisierung des Managements hätte man viel früher offensiv angehen müssen. Abwiegeln hilft nicht.

Nur verbessert die Annahme der Initiative die Lage der Angestellten nicht. Ob sie in Zukunft genügend Fachkräfte akquirieren können, wissen Firmen nicht. Verlagern sie nun Arbeitsplätze ins Ausland?
Das sehe ich weniger dramatisch. Bis in drei Jahren wird man pragmatische Lösungen finden, wenn es einen Mangel an Fachkräften geben sollte. Die Diskussion über den Mangel an Fachkräften wird nicht objektiv geführt. Unternehmen müssten für Frauen, ältere Mitarbeitende und bereits in der Schweiz wohnende Leute mit Migrationshintergrund spezifischere Arbeitsangebote schaffen. Da gibt es noch viel Potenzial. Der Hauptschaden der Annahme der Initiative besteht darin, die bilateralen Verträge aufs Spiel zu setzen. Man muss neu verhandeln und wird mit hoher Wahrscheinlichkeit schlechtere Ergebnisse als heute erhalten.

Im Mai folgt die nächste Abstimmung, die einen Staatseingriff fordert. Eingeführt werden soll ein Mindestlohn von 4000 Franken. Welche Folgen hätte ein Ja?
Das wäre dramatisch. Der Schweizer Arbeitsmarkt ist punkto Beschäftigung und Einkommen deshalb eine Erfolgsgeschichte, weil Entscheidungen pragmatisch und dezentral in den Betrieben getroffen werden. Arbeitgeber und Arbeitnehmer wissen vor Ort genau, welche Löhne angezeigt sind. Das ist typisch schweizerisch. Würde da mit zentralen Regulierungen eingegriffen, würde dieses Gefüge zerstört. Das wäre ein Riesenverlust.

Sie geben im Herbst Ihren Arbeitsplatz als Leiter Ihres Hamburger Instituts auf. Wollen Sie mehr forschen, um sich als Konvertit ein neues, wissenschaftliches Fundament zu erarbeiten?
Genau. Ich möchte herausfinden, was richtige Antworten auf neue Fragen einer neuen Realität sind. Widerlegen, dass es um Glaubensfragen geht. Zeigen, dass die Empirie gewisse alte Theorien wie eben die von der Inflation falsifiziert hat.

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