Es war eines jener Ereignisse, die die Welt erschüttern. Am 15. September 2008 kollabierte die New Yorker Investmentbank Lehman Brothers. Die globale Finanzkrise, die ein Jahr zuvor ausgebrochen war, eskalierte. Eine breite Öffentlichkeit realisierte, wie sehr sich die Banken mit «faulen» Hypotheken verzockt hatten. Die Aktienkurse sausten in den Keller, die Arbeitslosigkeit stieg.
Dank dem Eingreifen von Regierungen und Notenbanken konnte eine Katastrophe wie nach dem Börsenkrach von 1929 verhindert werden. Das Finanzsystem wurde durch Milliarden von Steuergeldern stabilisiert. Eine tiefe Wirtschaftskrise wurde abgewendet, weil die Zentralbanken die Zinsen auf Null senkten und massenhaft Staatsanleihen aufkauften.
Zehn Jahre nach dem Lehman-Schock sieht es auf den ersten Blick rosig aus. Die US-Wirtschaft brummt, die Kurse an der Wall Street klettern scheinbar unaufhaltsam nach oben. Auch in Europa geht es nach langer Stagnation bergauf. Die Schweiz kam ohnehin glimpflich davon, obwohl die Grossbank UBS von Bund und Nationalbank gerettet werden musste.
Das aber ist nur die schöne Oberfläche. Bei genauer Betrachtung ist die Bilanz ein Jahrzehnt nach Lehman durchzogen bis verheerend, wie eine Analyse von Philip Stephens in der Financial Times zeigt. Darin argumentiert der stellvertretende Chefredaktor und Chefkommentator des renommierten Londoner Wirtschaftsblatts über weite Strecken wie ein Klassenkämpfer.
Die globale Finanzkrise hätte die Rückkehr zu einer Marktwirtschaft bringen können, in der «Alles ist möglich» ersetzt worden wäre durch so etwas wie «Jeder profitiert», argumentiert Stephens und verweist auf die «eloquenten Reden und grossen Versprechungen» von Barack Obama, Gordon Brown, Angela Merkel und anderen. «Stattdessen haben wir Donald Trump, den Brexit und wirtschaftlichen Nationalismus bekommen.»
Die zwei grössten Verlierer des Lehman-Kollapses sind für den FT-Kommentator die liberale Demokratie und offene Grenzen. Nach einem Jahrzehnt mit stagnierenden Einkommen und Austeritätspolitik sei es nicht überraschend, dass diejenigen, die vom Crash am härtesten getroffen wurden, «populistische Aufstände gegen die Eliten unterstützen».
Besonders hart geht Stephens mit der Finanzbranche ins Gericht, bei der sich kaum etwas geändert habe. «Die Architekten eines zügellosen Finanzkapitalismus zählen immer noch die Nullen ihrer Boni. Die Schlimmste, das ihnen widerfahren ist, sind etwas längere Wartezeiten, bis sie abkassieren können.» Ein Marxist könnte es kaum schärfer formulieren.
Und weiter im Text: «Banker erhalten Reichtümer für gesellschaftlich nutzlose Aktivitäten. Die Steuerzahler müssen für staatliche Too-big-to-fail-Garantien geradestehen. Und clevere junge Mathematiker erzeugen neue, gefährlich undurchschaubare Instrumente, um die Handelsräume am Laufen zu halten. Jetzt wie einst werden Gewinne privatisiert und Risiken verstaatlicht.»
Die Folgen des Crashs tragen mussten jene, «die am wenigsten dazu in der Lage waren», argumentiert Philip Stephens. Fiskalische Massnahmen hätten sich auf Einsparungen statt höhere Steuern konzentriert. In Grossbritannien habe das Verhältnis 80:20 betragen, zum Nachteil nicht nur der sozial Schwachen. «Die ‹hart arbeitenden Klassen›, die Politiker vor Wahlen umwerben, waren die Opfer.»
Es sei keine Überraschung, dass diese Menschen nun Trump oder den Brexit unterstützen, «angeheizt durch eine vergiftete Rhetorik, die Einwanderer für ihre Misere verantwortlich macht», folgert Stephens. Auf dem europäischen Kontinent widerspiegle der Aufstieg eines extremen Nationalismus den Niedergang der sozialen Marktwirtschaft, «dank der auch gewöhnliche Wähler einen Anteil am Kapitalismus erhielten».
Verschärft werde diese Entwicklung durch die Digitalisierung und die wettbewerbsfeindliche Monopolstellung einer Handvoll «Tech-Monster», die alle Schlupflöcher zur Steuervermeidung ausnützen. All dies habe zu jenem Gefühl der Unfairness beigetragen, das den Populisten am meisten Zulauf beschert habe – «zur Überzeugung, dass ihr Schicksal den Eliten gleichgültig ist».
Antworten darauf hätten die Populisten keine, betont Stephens. Vielmehr sei die Basis von Donald Trump die Verliererin seiner Handelskriege, «nachdem sie bereits durch seine Steuersenkungen für die Superreichen beraubt wurde». Den britischen Arbeitern werde es durch den Brexit schlechter gehen, und auch die Populisten auf dem Kontinent seien Quacksalber. «Aber viele der Sorgen, die sie ansprechen, sind real.»
Lösungen für das Problem insbesondere der wachsenden Ungleichheit zeigt Philip Stephens höchstens in Ansätzen auf. Auch andere Punkte werden allenfalls angetippt, etwa dass die Finanzkrise die Budgettricks der Griechen zum Platzen brachte und damit die Eurokrise auslöste. Oder dass Migration und Flüchtlingskrise den Nationalisten in die Hände spielten.
Seine Schlussfolgerungen aber sind nicht von der Hand zu weisen. Durch die mangelhafte Reaktion auf die Krise von 2008 sei der Rest der Welt zum Schluss gekommen, «dass er vom Westen wenig lernen kann». Künftige Historiker würden sich wundern, «warum das Ancien Regime so sorglos selbstgefällig – oder vielmehr mitschuldig – zum eigenen Niedergang beigetragen hat».