Baba ♀️
Danke Herr Kyburz, Sie haben es auf den Punkt gebracht.
Am 25. August 1925 tuckerten erstmals fünf umgebaute Ford-T-Lastwagen durch die Stadt Zürich. Beladen waren sie mit sechs Gütern des täglichen Bedarfs: Kaffee, Kokosfett, Reis, Seife, Teigwaren und Zucker. Verkauft wurden sie zu konkurrenzlos günstigen Preisen. Der Erfolg war durchschlagend, bald wurden die Routen und das Sortiment ausgebaut.
Der Kopf hinter diesen mobilen Verkaufsläden war der Zürcher Kaufmann Gottlieb Duttweiler. Er hatte lange im Ausland gelebt und gearbeitet. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz stellte er fest, dass der Detailhandel aus unzähligen kleinen, ineffizienten Läden bestand. Eine Folge davon waren die höchsten Lebensmittelpreise in ganz Europa.
Dies belastete das knappe Budget der Arbeiterfamilien. Duttweiler war im Ausland auf moderne Produktions- und Vertriebsmethoden aufmerksam geworden und wollte mit ihnen den Schweizer Detailhandel aufmischen. Angetrieben wurde er von dem für ihn und die spätere Migros typischen Mix aus cleverem Unternehmertum und sozialem Engagement.
1926 wurde in Zürich die erste Migros-Filiale eröffnet. Anfangs wurde Duttweiler von der Konkurrenz bis aufs Blut bekämpft. Hersteller von Markenartikeln boykottierten den «Preisbrecher» und stellten sich selbst ein Bein, denn Duttweiler konterte mit der Gründung von Eigenmarken. Chocolat Frey wurde zum grössten Schoggiproduzenten der Schweiz.
Der Siegeszug der Migros jedenfalls liess sich durch den Widerstand auch aus der Politik (der Bundesrat erliess zeitweise ein auf die Migros zielendes Filialverbot) nicht aufhalten. Er trug vielmehr zum Mythos des «orangen Riesen» bei, wie die Migros-Wagen, die mit der Zeit zu fahrenden Supermärkten wurden und ein eigenes Einkaufsfeeling vermittelten.
Sie sind längst Geschichte, und auch sonst hat die Migros viel von ihrem einzigartigen Image eingebüsst. Nun ist ein weiteres Alleinstellungsmerkmal gefallen: das Verkaufsverbot für Alkohol in den Migros-Filialen. Die Delegierten des Migros-Genossenschaftsbundes votierten am Samstag mit 85 zu 22 Stimmen klar für eine entsprechende Statutenänderung.
Noch ist das Ende des Alkoholverbots nicht definitiv. Erst müssen die zehn regionalen Genossenschaften darüber befinden. Falls sie den Alkoholverkauf einführen wollen, haben ihre Genossenschafterinnen und Genossenschafter in einer Urabstimmung das letzte Wort. Es ist jedoch absehbar, dass eine fast 100-jährige Tradition zu Ende geht.
Wie kam es dazu? Gottlieb Duttweiler war ein Genussmensch, der «Stumpen» rauchte und einem Glas Wein nicht abgeneigt war. Dem liebevoll «Dutti» genannten Migros-Gründer sei es um die Volksgesundheit gegangen, heisst es oft. Fabrikarbeiter hatten ihren am Ende der Arbeitswoche in bar ausbezahlten Lohn häufig auf dem Heimweg «versoffen».
Das Alkoholverbot entsprach demnach Duttweilers sozialem Anspruch. Doch er war auch ein Marketing-Genie und erkannte die Chance, die Migros als Anbieterin von gesunden Waren von hoher Qualität zu positionieren und das Image der Eigenmarken zu stärken. Der Verkaufserfolg des 1928 ins Sortiment aufgenommenen Süssmosts schadete dabei nicht.
Heute hat sich das Umfeld des Detailhandels erheblich verändert, die Migros wird von verschiedenen Seiten herausgefordert. Das Alkoholverbot wackelt deshalb seit Jahren. Eine erste Zäsur fand 2007 mit der Übernahme des Discounters Denner statt. Sein Gründer Karl Schweri bewunderte den 1962 verstorbenen Gottlieb Duttweiler.
Bei Alkohol und Tabak aber war Schweri ein Anti-Dutti. Er setzte auf Kampfpreise, um das Bier- und das Tabak-Kartell zu knacken. So importierte er billige No-Name-Zigaretten aus dem Ausland und verkaufte Markenprodukte zwar zum vorgeschriebenen Preis, doch die Kunden erhielten Tabak-Bons, die sie nach der Auslösung des Kartells einlösen konnten.
Am Ende siegte Schweri (und andere mit ihm), doch das Image von Denner als «Dealer» von billigem Alk und Tabak sorgte bei der Migros-Übernahme für beträchtliches Stirnrunzeln. Seither wurde das Verbot weiter durchlöchert. Man findet Bier, Wein und Schnaps im Migros-Onlineshop genauso wie bei Migrolino und beim Partnerunternehmen Voi.
Es wäre inkonsequent und in gewisser Weise heuchlerisch, wenn die Migros-Filialen weiterhin «trocken» bleiben sollen. Gleichzeitig wird die Migros auch ohne Alkohol und Tabak zunehmend zu einem Detailhändler unter vielen. Das betrifft etwa die Markenartikel, die man immer öfter in den Regalen findet, wo sie die Migros-Eigenmarken konkurrenzieren.
Der frühere Konzernchef Jules Kyburz, der Duttweiler noch persönlich kannte, brachte es gegenüber Tamedia auf den Punkt: «Die Migros war immer anders. Doch nun werden wir immer gleicher.» Ob sich Dutti wegen der Aufhebung des Alkverbots im Grab umdrehen würde, ist deshalb eine müssige Frage. Er würde es tun, weil die Migros «normal» wird.