Behäbig sei die Migros geworden, gefangen in überkommenen genossenschaftlichen Strukturen. So werden die Gewinnprobleme des orangen Riesen landauf, landab erklärt. Der Verkauf von Globus letzte Woche an Milliardäre aus Österreich und Thailand gilt als letzter Beleg für diese These: Die Migros muss wieder agiler werden.
Migros-Chef Fabrice Zumbrunnen mag die Agilität-These nicht mehr hören. Schon vor anderthalb Jahren beschied er zwei Journalisten auf eine entsprechende Frage, sie sollten sich an die Fakten halten.
Zumbrunnen ist indessen nicht allein. Ausgerechnet Reiner Eichenberger sagt auch, die Agilität-These allein greife zu kurz. Der Professor der Universität Freiburg ist langjähriger und leidenschaftlicher Kritiker der Migros, wie auch ihres ewigen Widersachers Coop. Als ein früherer Migros-Chef den deutschen Discountern Aldi und Lidl vorwarf, sie würden auf Kosten der Mitarbeiter die Preise drücken, konterte Eichenberger scharf. Der Migros-Chef betreibe Rufschädigung. «Vielmehr haben überhöhte Lebensmittelpreise verheerende Folgen.»
Eichenberger erklärt die Nöte der Migros so:
Zum einen sind die Preise gesunken, was die Umsätze mit nach unten zieht. Zum anderen wurde die Qualität besser, das Angebot vielfältiger. Die Läden sind heute schöner. Das alles hat im Detailhandel die Kosten in die Höhe gedrückt. Dieser Doppeltrend nimmt der Migros jedes Jahr wieder ein kleines Stück vom Gewinn weg.
Die Bewegungen bei den Preisen sind eindrücklich. Das Ausmass lässt sich ablesen an einem Vergleich mit den Nachbarländern Italien, Frankreich, Deutschland und Österreich. In all diesen Ländern erhebt das Statistikamt Eurostat die Preise von zig Waren und Services. Die Zahlen zeigen, was sich alles auf der Hochpreisinsel Schweiz getan hat seit 2005. Damals öffneten hierzulande die ersten Filialen von Aldi und Lidl die automatischen Schiebetüren.
Schweizer Preise bröckeln im Vergleich zum Ausland. Diese Feststellung gilt generell. Beispiel Nahrungsmittel. In der Schweiz waren sie 2019 nur 2 Prozent teurer als im Jahr 2005. Doch in Deutschland kosten sie über 30 Prozent mehr als damals. In Frankreich beträgt der Aufschlag über 20 Prozent. In Italien sind es 27 Prozent und in Österreich gar 37 Prozent (siehe Grafik).
Möbel wurden fast 11 Prozent billiger in der Schweiz. In Deutschland gingen die Preise um 14 Prozent nach oben, in Österreich um über 30 Prozent. Ein anderes Beispiel sind Haushaltsgeräte. Hierzulande gaben die Preise um fast 25 Prozent nach. In Deutschland dagegen nur um 8 Prozent. In Österreich zahlen die hochgeschätzten Kunden gar 20 Prozent mehr. Und so weiter. Die Liste der Beispiele lässt sich fortführen. So wurden Fahrzeuge in der Schweiz billiger, rundherum teurer.
Das Gleiche gilt für Spielwaren. Für Bücher. Für Produkte zur Körperpflege. Medikamente wurden in Deutschland viel teurer, in der Schweiz viel billiger. Und in Deutschland erhöhten Hotels und Restaurants ihre Preise drei Mal mehr als in der Schweiz, in Österreich war es vier Mal mehr. Unrühmliche Ausnahmen gibt es allerdings auch. Schweizer Bankkunden zahlen heute 42 Prozent mehr für Gebühren. Hinter diesem Wert bleiben die Banken in den Nachbarländern weit zurück.
Nun sind die tieferen Preise längst nicht immer die Folge davon, dass Schweizer Unternehmen heroisch für ihre Kunden gekämpft hätten. Oft gibt es prosaische Erklärungen. Nämlich, dass der Detailhandel dank starkem Franken billiger im Ausland einkaufen konnte. Umgekehrt sind die tieferen Preise nicht immer nur die Folge von billigeren Importen. Im Detailhandel sind die Gewinne tatsächlich kleiner geworden, wie das Beispiel Migros zeigt. Und nicht von ungefähr hat die Branche zuletzt Tausende von Arbeitsplätzen weggespart.
Daher ist es für die Branche bitter: Die Hochpreisinsel ist die gleiche geblieben. Die Preissenkungen im Inland wurden teilweise wieder zunichtegemacht durch die Aufwertung des Frankens. Anders gesagt: Die Preise in Deutschland haben in Euro zwar zugenommen. Doch für Schweizer ist Deutschland billig geblieben, wenn sie bewaffnet mit ihrem noch stärkeren Franken nach Schnäppchen jagen.
Nicht allein die tieferen Preise drücken die Migros. Sie muss sich auch mit ihren Konkurrenten einen harten Wettbewerb um Qualität liefern. Ausgelöst wurde dieser vom Markteintritt der deutschen Discounter Aldi und Lidl im Jahr 2005. Das kam überraschend. Eichenberger:
Zwar sanken die Preise, ein richtig brutaler Preiskampf blieb aus. Im Nachhinein ist es erklärbar, wie Eichenberger sagt: «Es sind nur vier Akteure: Da weiss jeder, was der andere tut. Senkt einer die Preise, ziehen die anderen sofort nach. Alle wissen: Tiefere Preise schaden mir nur.» Migros und Coop fuhren lieber die Qualität hoch, erhöhten die Auswahl an Produkten und verschönerten ihre Läden.
Ein Kampf um die beste Qualität lohnt sich. Solche Offensiven kann die Konkurrenz nicht von heute auf morgen kopieren. Für den Umbau von Läden braucht es Bewilligungen. Neue Standorte und Lieferanten müssen her, ehe man eine neue Kette mit italienischen Spezialitäten lancieren kann. Und so weiter. Eichenberger sagt, der Wettbewerb um Qualität werde heute mit hohem Einsatz geführt. «Die Kunden sind die Gewinner. Der Detailhandel hat höhere Kosten.»
Die Migros hat es also, agil hin oder her, mit kniffligen Trends zu tun. Wie Eichenberger sagt: «Der Weg ist für die Migros in der Tat steinig.» Doch zugleich sagt er: «Aber sie war bisher auch nicht eben leichtfüssig.» (aargauerzeitung.ch)
Es wird schon so sein, dass in den umliegenden Ländern die Dinge teurer wurden. Dort sind aber auch die Löhne entsprechend gestiegen. Trotzdem sind z.B. Medikamente in der EU günstiger als hier. Beispiel Ibuprophen:
Hier kosten 10 Tabletten CHF 9.
In DE kosten 50 Tabletten Euro 15.
Der Besuch eines Supermarkts oder Restaurants in der EU ist ebenfalls ein Aha-Erlebnis.