Aus der statistischen Analyse genetischer HIV-Sequenzen hat ein internationales Forscherteam die frühe Geschichte des Aids-Erregers rekonstruiert. Die Wissenschaftler erklären die Ausbreitung im Magazin «Science» mit den sozialen und historischen Bedingungen im Kongobecken während des 20. Jahrhunderts.
Bekannt war bereits, dass Varianten des SI-Virus (Simian Immunodeficiency Virus) vermutlich im frühen 20. Jahrhundert mindestens 13-mal von Affen auf Menschen übertragen wurden –darunter viermal die häufigste und aggressivere Form HIV-1. Erste Berichte über Aids erschienen Anfang der Achtzigerjahre in den USA, identifiziert wurde das HI-Virus 1983.
Insgesamt haben sich bisher fast 75 Millionen Menschen damit infiziert. Bei HIV-1 entfallen die weitaus meisten Infektionen auf die Gruppe M, die wiederum in diverse Subtypen unterteilt ist. Dagegen ist die zweithäufigste Gruppe O weitgehend auf Afrika beschränkt.
Die ältesten HIV-Sequenzen stammen aus zwei Blutproben, die Ende der Fünfzigerjahre in Kinshasa – damals Léopoldville – entnommen wurden, der Hauptstadt der heutigen Demokratischen Republik Kongo. Aus Analysen von Erregervarianten aus der Region erstellten die Forscher um Oliver Pybus von der englischen Universität Oxford und Philippe Lemey von der belgischen Universität Löwen einen HIV-Stammbaum, den sie mit historischen Daten abglichen.
Die Analyse bestätigt, dass die Übertragung auf den Menschen vermutlich vor 1920 im südlichen Kamerun erfolgte. Dortige SIV-Stämme, die bei Schimpansen gefunden wurden, ähneln HIV-Erregern der Gruppe M besonders stark. «Nach dieser lokal begrenzten Übertragung, vermutlich als Ergebnis der Jagd auf Primaten, reiste das Virus wahrscheinlich per Fähre entlang des Sangha-Flusssystems nach Kinshasa», schreiben die Autoren. Begünstigt wurde dies demnach durch den Umstand, dass die frühere deutsche Kolonialmacht in Kamerun die Flussverbindungen nach Kinshasa förderte.
Der geografische Ursprung der HIV-1-Gruppe M liegt demnach höchstwahrscheinlich in Kinshasa, vermutlich um das Jahr 1920. Dies erkläre sowohl, warum in der Stadt die grösste genetische HIV-Vielfalt auftritt, als auch, warum von dort die ältesten Proben stammen. Von Kinshasa breitete sich das M-Virus im Kongobecken aus, vor allem entlang des Eisenbahnnetzes.
Kinshasa hatte damals eine besonders gute Verkehrsanbindung. «Daten aus Kolonialarchiven zeigen, dass bis Ende der Vierzigerjahre mehr als eine Million Menschen jedes Jahr mit der Eisenbahn durch Kinshasa reisten», sagt Erstautor Nuno Faria von der Universität Oxford. Das nur wenige Kilometer entfernte Brazzaville auf der anderen Seite des Kongo-Flusses wurde demnach spätestens bis 1937 erreicht. Auch in Städten im Süden des Kongo, wie etwa Lubumbashi, tauchte das Virus bis Ende der Dreissigerjahre auf.
In andere Gebiete der Region kam der Erreger vermutlich erst bis Anfang der Fünfzigerjahre. «Gruppe M trat zunächst in den drei grössten Bevölkerungszentren auf - Brazzaville, Lubumbashi und Mbuji-Mayi -, die besser mit Kinshasa verbunden waren, was auf eine entscheidende Rolle von Verkehrsverbindungen bei der frühen Verbreitung und Etablierung von HIV-1 von seinem Epizentrum aus hindeutet», folgern die Autoren.
Bis etwa 1960 verbreiteten sich die Gruppen M und O langsam und fast in ähnlichem Masse. Ab 1960 stieg die Ausbreitung von M fast um das Dreifache. Dazu trug demnach eine grössere Verbreitung der Prostitution bei sowie eine damalige medizinische Praxis: Während der Fünfzigerjahre wurden Spritzen bei der Behandlung von Geschlechtskrankheiten nicht sterilisiert. Dies decke sich mit der Beobachtung, dass zu jener Zeit auch andere Krankheiten wie Hepatitis B und Hepatitis C (HCV und HBV) zunahmen.
In Kinshasa entstand demnach innerhalb der M-Viren bis 1944 der Subtyp B, der weltweit stark verbreitet ist. Er erreichte bis 1964 Haiti, vermutlich über haitianische Gastarbeiter, die nach der Unabhängigkeit ins damalige Zaire kamen und vornehmlich aus Kinshasa in ihre Heimat zurückkehrten. Von Haiti aus gelangte dieser Erregertyp dann in die USA.
Subtyp C, auf den inzwischen etwa die Hälfte der Infektionen entfallen, blieb dagegen zunächst in Afrika. Er entstand vermutlich in den Bergbaugebieten der Demokratischen Republik Kongo und verbreitete sich - ebenfalls über Migranten - nach Sambia, Angola und in andere Länder Afrikas südlich der Sahara, inzwischen auch in anderen Weltregionen.
«Die Studie zeigt sehr schön die Anfänge und die frühe Ausbreitungsgeschichte von HIV-1-Viren der Gruppe M», sagt Frank Kirchhoff von der Universitätsklinik Ulm. Allerdings seien manche Zusammenhänge zur HIV-Verbreitung recht spekulativ. «Beispielsweise bleibt unklar, warum die Zunahme der Prostitution und Änderungen in der damaligen medizinischen Praxis einen unterschiedlichen Effekt auf die Ausbreitung von Viren der Gruppen M und O gehabt haben sollen.»