Irgendwo mitten in Quezon City, der bevölkerungsreichsten Stadt der Philippinen, steht Cymbel del Fierros Aktenschrank. Darin befinden sich tausende Pepsi-Flaschendeckel, auf deren Innenseite die Zahl 349 geschrieben steht. Es sind die rostenden Träume einer ganzen Generation.
Cymbel ist die Erbin von Vicente del Fierros Kampf. Bevor er 2010 an einem Schlaganfall starb, hat er seiner Tochter das Versprechen abgerungen, weiterzumachen – damit Pepsi nicht vergisst, was am 25. Mai 1992 geschah.
PepsiCo war schon damals der kleinere Player als die Coca-Cola Company im globalen Getränkebusiness. So viel kleiner, dass er – trotz seines Mitmischens im Lebensmittelsektor mit den beliebten Frito-Lay-Snacks – nicht gegen den unangefochtenen Limonaden-Champion ankam. In Zahlen hiess das: Da stand Pepsi-David mit einem Börsenwert von 12,96 Milliarden US-Dollar dem 55,32 Milliarden US-Dollar schweren Cola-Goliath gegenüber.
Und selbst auf dem Spielfeld der Philippinen, wo die Spionagetricks schmutziger und die Bilanzen frisierter waren, als es auf US-amerikanischem Boden je möglich gewesen wäre, hielt der übermächtige Konkurrent den rund vier Mal höheren Marktanteil.
«Number Fever» sollte das ändern, befand Christopher Sinclair, der 38-Jährige CEO von Pepsi Cola International, der sich in den Cola-Kriegen bereits als «Battle Field Commander» hervorgetan hatte.
Number Fever war die Werbestrategie eines in der New Yorker Marketingabteilung sitzenden Chilenen namens Pedro Vergara. Und sie sollte die Verhältnisse umkehren. Nicht nur für PepsiCo, sondern ebenso für die Hauptgewinner:innen, denen eine Million philippinischer Pesos winkte. Eine Million Pesos, das entsprach 1992 dem 375-fachen des durchschnittlichen Monatsgehalts oder dem Gegenwert von 31,2 Jahren Arbeit auf dem südostasiatischen Inselstaat. In den USA hätte jene Summe 37'453 US-Dollar betragen – etwa das Jahresgehalt eines durchschnittlichen Angestellten.
Drei auf die Innenseite der blechernen Pepsi-Verschlussdeckel gedruckte Ziffern versprachen also 62 Millionen Menschen eine sorgenfreie Zukunft; finanzielle Sicherheit für sich, ihre Kinder und die gesamte Familie. Für mindestens 24 Millionen Menschen verhiess der Hauptgewinn nichts Geringeres als den Ausweg aus der Armut, unter der damals 38,5 Prozent der Gesamtbevölkerung litten.
Das halbe Land fieberte mit. ABS-CBN Channel 2 verkündete allabendlich die jeweilige Gewinnerzahl, zusammen mit 29 Radiosendern und vier Zeitungen. Die veröffentlichten Gewinnchancen lagen bei 1 zu 28,8 Millionen, dennoch hatte Pepsi bereits 17 Millionäre hervorgebracht. Das Zahlenfieber war nach wenigen Wochen in eine Zahlenhysterie ausgeartet: Ein Hausmädchen wurde verhaftet, weil es die Flaschendeckel seines Arbeitgebers gestohlen habe, während zwei Pepsi-Verkäufer nach einem Streit um selbige ermordet worden waren.
Dann kam der 25. Mai. Und mit ihm die Gewinnerzahl 349. Cybell del Fierro schaute ungläubig auf den einen Flaschendeckel und rannte dann zur Ecke Gilmore Avenue und Aurora Boulevard im Stadtteil New Manila, wo ein schweres Eisentor den Zugang zur Pepsi-Abfüllfabrik versperrte. Auch der Tricycle-Taxifahrer Guzmàn de Lina machte sich auf den Weg dahin. Sein Neffe kündigte im Geiste bereits seinen Job als Barkeeper im Rotlichtviertel. Nicht nur auf Luzon, auch auf den anderen Inseln der Philippinen brachen die Menschen in Begeisterungstänze aus, wuselten freudig in den Strassen herum und streckten ihre 349-Deckel gen Himmel. Eine Mutter von zwölf Kindern, deren Kinder täglich zehn Flaschen Pepsi tranken, hatte 35 Millionen Pesos gewonnen.
Als sich immer mehr Leute ums Herzstück der philippinischen Pepsi-Produktion zu scharen begannen, rief eine Sekretärin die Marketingdirektorin an. «Bei meinen Bekannten scheinen viele 349-Flaschendeckel im Umlauf zu sein», sagte sie. Um 22 Uhr informierte man das philippinische Handels- und Industrieministerium: Es sei ein Fehler passiert.
Ein Fehler im Auswahl-Algorithmus, der dazu führte, dass eine bereits massenhaft produzierte Zahl versehentlich als Hauptgewinn gezogen wurde. Statt auf nur zwei Flaschendeckeln prangte die 349 auf 600'0000 Flaschen. Und keiner hatte es vorher überprüft.
Ein Fehler, der fünf Menschen das Leben kosten würde.
Pepsi liess am nächsten Morgen durch die Zeitungen verlautbaren, die wahre Gewinnzahl sei die 134, was die Menschen nur noch wütender machte. Dann riegelte das Unternehmen die Fabriktore ab und postierte Polizisten und Soldaten davor.
«Battle Field Commander» Sinclair war auf seiner Yacht nicht zu erreichen.
Um 3 Uhr morgens hiess es: Allen 349-Flaschendeckel-Besitzer:innen, die sich binnen zwei Wochen bei Pepsi meldeten, werde als «Geste des guten Willens» 500 Pesos ausgezahlt.
Auch dieses Angebot besänftigte die Leute nicht, wurde schliesslich aber doch von 486'000 Personen angenommen.
Am nächsten Tag mischte sich auch Vicente del Fierro unter die Menschenmenge, die noch immer vor der Fabrik protestierte. Als charismatischer Prediger einer katholischen Sekte war er von Anfang an gegen die Werbekampagne gewesen und hatte sie in einem Brief an eine Zeitung als «eine soziale Krankheit» bezeichnet, «die den Spieltrieb unserer Kinder nährt». Den Spieltrieb seiner Tochter hatte sie auch tatsächlich genährt.
Als Steine und Glasflaschen in Richtung Fabrik flogen und die Sicherheitskräfte mit ihren Schutzschildern die aufgebrachten Leute zurückdrängten, floh del Fierro mit anderen in den nahe gelegenen Dunkin' Donuts. Dort stellte er sich auf einen der Tische und verlangte Ruhe.
«Es geht um die Ausbeutung von Drittweltländern durch multinationale Konzerne», sagte er den sich um ihn versammelnden Reportern. Draussen donnerten Pepsi-Trucks vorbei, flankiert von Männern mit Automatikwaffen.
Dann bat er Freiwillige, eine Liste mit allen Gewinner:innen zu erstellen.
Der Kreuzzug mochte beginnen. Mit einem Startkapital von 10'000 Pesos, das ihm der lokale CEO der Coca-Cola Company zukommen liess, gründete del Fierro die «Coalition 349» und kaufte sich ein Megafon, durch das er bei seinen Kundgebungen verkündete, dass Gott definitiv grösser sei als der 50. grösste Konzern der Welt. Gewillt, den Kampf bis nach New York zu tragen, bereite er eine Sammelklage vor und versprach den enttäuschten 349-Besitzer:innen eine hohe Entschädigung. Dafür nahm er 500 Pesos Anwaltskosten von denen an, die es sich leisten konnten. Für die anderen arbeitete er unentgeltlich.
Es gab aber auch die anderen. Angeblich von Gott berufene Teufelsaustreiber, die für die Auserwählung ihrer Anti-Pepsi-Söldner sehr viel mehr Geld verlangten. Bauern verkauften ihr Vieh, um ihre im Sterben liegende Hoffnung auf ein besseres Leben nicht begraben zu müssen. Dank ihnen konnte Kenneth Ross, der Sprecher von PepsiCo International, die Aktivisten als Opportunisten hinstellen, «die Tausende ahnungsloser Filipinos mit sehr leeren Versprechungen einer riesigen Entschädigung für die Zahlung einer Vorauszahlung angelockt» hätten.
Dennoch blieben jene betrügerischen Nutzniesser nur die Trittbrettfahrer eines Desasters, das PepsiCo angerichtet hatte. Ein Konzern, der seinerseits wieder für so viel mehr stand: für US-amerikanische Kolonialherrschaft, für US-amerikanische Militärpräsenz, für ihre Einmischung in die Präsidentschaftswahlen, für die Unterstützung Ferdinand Marcos', für wirtschaftliche Kontrolle, Kapitalismus und Ausbeutung. Die Philippinen waren die operative Drehscheibe für ihre Einsätze im Korea- und Vietnamkrieg gewesen und die Versuchswiese, auf der sie ihre psychologischen Kriegsführungsmethoden erprobt hatten.
Es war nicht nur der Hass auf Pepsi, der sich hier entlud. Aber die Molotowcocktails und selbst gebauten Bomben landeten auf ihren Lieferwagen. Eine davon prallte eines Morgens im Februar 1993 von ihrem Ziel ab und tötete ein fünfjähriges Mädchen und eine Lehrerin. Ihre Beine wurden dabei derart zerfetzt, dass die untere Körperhälfte während der Beerdigung bedeckt blieb. Ihr Witwer sprach nach dem Tod seiner Frau tagelang nicht. Bis Pepsi ihn zu sich ins Büro lud, wie er dem Bloomberg-Reporter Jeff Maysh später erzählte. Eine Gruppe Männer in Poloshirts mit Firmenlogo hätten ihm 50'000 Pesos angeboten, wenn er nicht klage.
«Meine Frau wäre nicht gestorben!», schrie er. «Es liegt an dem Vorfall mit 349, weil ihr die Leute betrogen habt!», dann stürmte er hinaus, änderte aber auf Anraten seiner Freunde seine Meinung – und nahm das Geld.
Vier Wochen später tötete eine in ein Pepsi-Werk in Davao City geworfene Granate drei Mitarbeiter.
Das philippinische National Bureau of Investigation (NBI) gab noch im selben Jahr bekannt, dass für die Bombenanschläge das gewalttätige Trio namens die drei Könige verantwortlich sei. Rodelio Formento war einer von ihnen, und er gab an, von Pepsi dafür eine riesige Summe in Aussicht gestellt bekommen zu haben. Die drei Könige sollten bei Kundgebungen Gewalt ausüben, um auf diese Weise die Protest-Organisatoren zu diskreditieren.
Der PepsiCo-Anwalt wies den Polizeibericht zurück, während der Leiter der Abteilung für organisierte Kriminalität den Medien sagte: «Wir sind reingelegt worden.» Das People’s Journal titelte kurze Zeit später: «Pepsi-Schläger bombardieren eigene Lastwagen».
Die Wahrheit lag wohl irgendwo niedergetrampelt von all der Wut und Enttäuschung zwischen den Brocken von Gerüchten, den Verschwörungstheorien und gegenseitigen Schuldzuweisungen. Das einzig Reale blieb die Gewalt, die mit jenem ganzen Chaos einherging. Und die kannte keinen Gewinner.
PepsiCo hatte zu diesem Zeitpunkt 150'000 Pesos Strafe ans Handels- und Industrieministerium gezahlt, weil das Unternehmen von der durch die Regierung genehmigten Werbekampagne abgewichen war. Del Fierros 400 Millionen schwere Schadensersatzklage wegen «grober Fahrlässigkeit» und «irreführender oder täuschender Werbung» wurde mit der Begründung abgewiesen, sie müsse an einem philippinischen Gericht verhandelt werden. 2006 entschied man an einem solchen: Pepsi habe nicht fahrlässig gehandelt und sei deshalb für Schäden nicht haftbar.
Inzwischen hatte del Fierro bereits zwei Schlaganfälle erlitten. «Pepsi, sie bringen mich sanft um», sagte er zu seiner Tochter Cymbel. Und bevor er im Januar 2010 tatsächlich an den Folgen eines dritten Schlaganfalls starb, konnte jener unermüdliche Kämpfer doch sehen, dass Pepsi in den Philippinen buchstäblich am Boden lag.
Keiner wollte die Produkte des Unternehmens mehr kaufen. Man bestrafte die Marke so sehr, dass sie sogar von Cosmos überholt wurde, einer lokalen Brauerei im Besitz von Coca-Cola. «349ed» zu werden, das heisst hier, betrogen zu werden.
Der Fehler des Konzerns hatte sich nicht nur ins Gedächtnis der Menschen, sondern auch in deren Sprache eingegraben. Und dort würde er wie die Flaschendeckel in Cymbels Aktenschrank noch lange die Geschichte ihrer verratenen Träume erzählen.
Bis anhin habe ich die Geschichte von Pepsi nicht so gut gekannt. Sehr interessanter und aufschlussreicher Bericht.
Danke. 👍
4 Jahre später haben sie ja etwas ähnliches mit einem Harrier abgezogen.