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Wie ein Gelähmter plötzlich wieder schreiben konnte

Wie ein Gelähmter plötzlich wieder schreiben konnte

Einem amerikanischen Forschungsteam ist es gelungen, über ein Hirnimplantat zu verstehen, was ein Proband sich zu schreiben vorstellte. Doch die Technologie birgt Risiken.
21.05.2021, 21:36
Niklaus Salzmann / ch media
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Ein 65-jähriger Mann, vom Hals an abwärts gelähmt, sitzt in einem Rollstuhl. Auf seinem Kopf ist ein graues Kästchen befestigt, das über ein Kabel mit einem Computer verbunden ist. Auf dem Bildschirm erscheint ein Satz, Buchstabe um Buchstabe, wie von Geisterhand geschrieben.

Signale aus dem Hirn werden dem Computer weitergeleitet.
Signale aus dem Hirn werden dem Computer weitergeleitet.shutterstock

Tatsächlich ist es der gelähmte Mann, der schreibt. Ohne sich zu bewegen – nur mit Gedankenkraft. Er stellt sich vor, er würde von Hand mit einem Stift auf Papier schreiben, wie er es vor seinem Unfall konnte. Zwei Implantate mit je 96 Elektroden messen die Aktivität in jenem Teil des Gehirns, das für Bewegungen der Hand zuständig ist.

Nach ein paar Tagen Training gelang es dem Mann, auf diese Weise 90 Zeichen pro Minute zu diktieren. Mit einigen technischen Kniffs konnte der Computer den Text zu 99 Prozent korrekt wiedergeben. Das Forschungsteam der Universität Stanford in den USA, welches das Experiment durchführte, schaffte es damit auf die Titelseite des renommierten Fachmagazins «Nature».

«Das ist ein kleiner Durchbruch»

Die Resultate geben in Fachkreisen zu reden. Rea Lehner, Forscherin für «Future Health Technologies» am ETH-Ableger in Singapur, sagt: «Die Ergebnisse sind beeindruckend, das ist ein kleiner Durchbruch.» Die Treffsicherheit sei extrem gut und die Geschwindigkeit ein grosser Vorteil gegenüber bisherigen Systemen.

Ziel dieser Mensch-Computer-Schnittstelle ist es, Menschen, die nicht sprechen können und vollkommen gelähmt sind, mit der Umwelt kommunizieren zu lassen. Es gibt bereits Systeme, bei denen eine Person mittels ­Gedanken einen Zeiger über eine virtuelle Tastatur bewegt und ein Signal gibt, sobald der gewünschte Buchstabe erreicht ist. Das gelingt aber nur mit ungefähr 40 Zeichen pro Minute, also ungefähr halb so schnell wie in der neuen Studie aus Stanford. Die 90 Zeichen, die der Proband mit der Vorstellung des Schreibens von Hand erreichte, entsprechen schon beinahe dem Tempo, mit dem Menschen dieser Altersgruppe typischerweise auf ihren Smartphones tippen.

Für die Studie beschränkten sich die Wissenschafter auf die 26 Kleinbuchstaben des englischen Alphabets sowie fünf Zeichen. Jedem davon konnten sie ein bestimmtes Muster neuraler Aktivität zuordnen. Anhand dessen erreichte der Computer bereits eine Trefferquote 94.1 Prozent, er lag also nur bei jedem zwanzigsten Buchstaben falsch.

In einem nächsten Schritt ging es darum, ganze Sätze zu verstehen. Da kommt die Schwierigkeit dazu, dass der Computer erkennen muss, wo ein Buchstabe aufhört und der nächste beginnt. Um eine hohe Erfolgsquote zu erreichen, trainierten die Forschenden eine künstliche Intelligenz im Erkennen der Buchstaben. Zudem liessen sie den Text durch eine Art automatisches Korrekturprogramm laufen.

Das Implantat darf nicht lange drinbleiben

«Die ganze Studie ist sehr innovativ», sagt Rea Lehner. «Es ist kontraintuitiv, aber möglicherweise ist die Vorstellung komplexer feinmotorischer Bewegungen im Gehirn zuverlässiger erkennbar als grosse, einfache Bewegungen.» Doch für eine verbreitete Anwendung bei Patientinnen und Patienten gibt es noch einige Hürden. Zum Beispiel kann die Methode nur bei Menschen funktionieren, die früher schreiben konnten. Und auch dies nur mit vergleichsweise kleinem Alphabet. Bei einer Sprache wie Tamil mit 247 Buchstaben wäre die Herausforderung ungleich grösser, wie zwei an der Studie nicht beteiligte Forschende in einem Kommentar in der Zeitschrift «Nature» schreiben.

Die vermutlich schwerwiegendste Einschränkung zur neuen Methode ist jedoch, dass Elektroden ins Gehirn implantiert werden müssen. Die verwendeten Implantate dürfen gemäss Zulassung nur dreissig Tage im Körper bleiben. Um dauerhaft auf diese Weise kommunizieren zu können, wäre also jeden Monat eine Hirnoperation notwendig. «Es besteht das Risiko von Verletzungen und Infektionen», sagt ETH-Forscherin Rea Lehner. Und:

«Dieses einzugehen, lohnt sich nur, wenn der Nutzen die Risiken deutlich überwiegt. Und das ist nur bei einem sehr kleinen Teil der Bevölkerung der Fall.»

Sie denkt dabei in erster Linie an Menschen mit so­genanntem Locked-in-Syndrom, die vollständig oder fast vollständig gelähmt sind und nicht einmal sprechen können.

Wo das Rückenmark verletzt ist, können Signale über Kabel laufen

Es gibt allerdings auch Forschungsgruppen, die nicht nur die Kommunikationsfähigkeit im Auge haben, sondern mit implantierten Elektroden ­gelähmten Menschen Bewegungen ermöglichen wollen. Vor vier Jahren war es bereits gelungen, einen Menschen, der seit acht Jahren gelähmt war, seinen Arm bewegen zu lassen. Dazu wurde das Signal für die Bewegung aus dem Hirn per Kabel an den entsprechenden Muskel weitergeleitet. Ein Forschungszentrum in Genf, das Wyss Center, arbeitet zusammen mit dem Genfer Universitätsspital daran, auf diese Weise Menschen mit gelähmten Gliedmassen sowie Patientinnen und Patienten nach Schlaganfällen das Greifen zu ­ermöglichen. Ein weiteres Ziel ist, dass Menschen mit Rückenmarksverletzungen das Gehen wieder lernen können.

Auch wenn es bis zu solchen Anwendungen ausserhalb von Forschungslabors noch ein weiter Weg ist, boomt das Gebiet. Mit Elon Musk ist bereits ein vielversprechender Name eingestiegen. Im vergangenen Jahr ­präsentierte er der Öffentlichkeit ein Schwein, das den Prototyp eines ­Mikrochips mit 1024 Elektroden im Gehirn trug. Mit seiner Firma Neuralink will Musk dereinst gar ­Gedanken ausserhalb des Gehirns ­abspeichern sowie ­Information in die umgekehrte Richtung senden, also vom Computer zum Hirn, zum Beispiel Sprachkenntnisse. In der Fachwelt wird ihm aber oft ­vorgeworfen, falsche Hoffnungen zu wecken.

Mittels EEG lässt sich ein Computergame spielen

Wer die Risiken von Hirnoperationen vermeiden will, muss dagegen Lösungen finden, die nicht auf Implantaten basieren. Ein Team unter der Leitung von Rea Lehner hatte im vergangenen Jahr am Cybathlon teilgenommen, einem Wettkampf für Menschen mit Behinderung, die durch Technik unterstützt werden. Ihr Teilnehmer spielte dabei mit Gedankenkraft ein Computerspiel, er musste ein Fahrzeug einer Rennbahn entlang steuern. Auf dem Kopf trug er eine Kappe mit 64 Elektroden, wie sie in Spitälern fürs Elektro­enzephalogramm (EEG) verwendet wird. Die Befehle für die Steuerung gab er, indem er sich vorstellte, die linke Faust beziehungsweise die rechte Faust zu öffnen und zu schliessen oder beide Füsse zu bewegen.

«Ich denke nicht, dass die Vorstellung, mit der Hand zu schreiben, in unserem Fall bessere Ergebnisse liefern würde», sagt Rea Lehner:

«Das Problem ist, dass wir von aussen durch die Schädeldecke niemals dieselbe Signalqualität kriegen wie mit einem Implantat.»

Das limitiert die Anwendungen von nichtinvasiven Methoden. Die ETH Lausanne hat zum Beispiel bereits vor zehn Jahren einen Rollstuhl präsentiert, der mit Gedanken gesteuert wird. Doch noch immer kann er nur im Labor gefahren werden – die Zuverlässigkeit, die beispielsweise entlang von Strassen unabdingbar wäre, hat das Team bis heute nicht hingekriegt.

Überhöhte Hoffnungen

Wie gross die Gefahr ist, falschen oder verfrühten Hoffnungen zu erliegen, hat in den vergangenen Jahren die Universität Tübingen erfahren. Ein Team um den renommierten Hirnforscher Niels Birbaumer, damals Seniorprofessor dieser Universität, hatte in zwei Publikationen Versuche mit komplett gelähmten Menschen, die nicht mal mehr die Augen bewegen konnten, durchgeführt. Es sei gelungen, mit einer nichtinvasiven Methode mit 70 Prozent zuverlässig zu erkennen, ob die Personen Fragen mit Ja oder mit Nein beantworteten, hiess es in den ­Publikationen.

Im Nachhinein kamen aber sowohl eine Untersuchungskommission der Universität als auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft zum Schluss, dass die beiden Publikationen falsche Angaben enthielten. Niels Birbaumer hält an den Resultaten der Studie fest, die beiden Publika­tionen wurden aber vom Verlag zurückgezogen.

Die Universität Tübingen hat ein Disziplinar­verfahren gegen ihren ehemaligen Professor eingeleitet. ­Aktuell gibt sie dazu keine Auskunft, was auf einen laufenden Rechtsstreit hindeutet. (bzbasel.ch)

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