Wann waren Sie zuletzt im Wald? Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass es innerhalb der letzten sieben Tage war – in der warmen Jahreszeit schnuppern fast zwei von drei Schweizern mindestens einmal wöchentlich Waldluft. Das ergab 2010 eine Umfrage der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Am 21. März ist der Internationale Tag des Waldes, doch die Schweizer lieben den Wald auch so. In Europa gehen nur noch die Finnen häufiger in den Wald als wir.
Gerade in Nord- und Mitteleuropa prägt der Wald die Landschaft stark, und entsprechend gross ist schon seit jeher seine Bedeutung für die Bevölkerung. Zu Beginn war er als Urwald bedrohliche, wilde Natur, der das Kulturland mühsam abgerungen werden musste. Dies hallt noch nach in den Märchen, in denen der dichte, dunkle Tann stets als unheimlicher, angsteinflössender Ort beschrieben wird.
Mit der fortschreitenden Verwandlung von Natur zu Kultur verlor der Wald allmählich seinen Schrecken; er wurde domestiziert. Seit Beginn der deutschen Romantik um 1800 wurde er – gerade in Deutschland – immer mehr zur unverfälschten Sehnsuchtslandschaft verklärt. Während zunehmend Industrialisierung und Urbanisierung die Lebenswelt der Menschen bestimmten, erschien der dunkle Forst immer mehr als heile, unschuldige Gegenwelt.
Der deutsche Wald gehörte allen, der «Deutsche Wald» aber war ein Motiv der rechtsgerichteten völkischen Bewegung, die ihn zum Symbol der nationalen Identität erhob. Die Nazis sahen dann in den Deutschen als den Nachfahren der Germanen ein «Waldvolk», dem man die Juden als anders geartetes «Wüstenvolk» entgegensetzte. Die nationalsozialistische «Waldanschauung» manifestierte sich in der Anpflanzung von «Hitlereichen» oder Baumgruppen in Hakenkreuzform.
Die Vorstellung, dass die Deutschen – oder generell die Deutschsprachigen – eine spezielle Beziehung zum Walde hätten, erhielt in den 80er Jahren neuen Auftrieb, als das deutsche Wort «Waldsterben» – wie zuvor der «Blitzkrieg» oder der «Weltschmerz» – zu einer internationalen Karriere ansetzte. Dass die Franzosen «le waldsterben» zunächst nicht Ernst nahmen und eher für eine deutsche Gemütskrankheit hielten, konnte man, wenn man wollte, als Indiz für die tiefere Verbundenheit der Deutschen mit dem Wald begreifen.
Im September 1981 titelte der Stern: «Über allen Wipfeln ist Gift». Im November zog der Spiegel nach und konstatierte: «Der Wald stirbt». Wissenschaftler sprachen von einer «tickenden Zeitbombe», Politiker von einem «ökologischen Holocaust». Damit war das Waldsterben in den Köpfen der Deutschen angekommen. Und dort blieb es eine Weile.
Bei den Wahlen im März 1983 zogen erstmals die Grünen in den Bundestag ein. Nicht wenige Beobachter waren überzeugt, dass ihnen das ohne die Angst vor dem Waldsterben nicht gelungen wäre. Im Gegensatz zur Atomkraft, die umstritten war, herrschte beim Thema Waldsterben nahezu geschlossener Konsens. Am «Ausmass des Waldsterbens», schrieb die «Zeit», könne «allenfalls ein pathologischer Ignorant» noch zweifeln.
Tatsächlich hatten Bilder von toten Wäldern in Osteuropa gezeigt, wie verheerend sich die bei der Verbrennung von fossilen Brennstoffen freigesetzten Schwefeloxide auswirken. Der sogenannte saure Regen hinterliess in Tschechien und Polen riesige Flächen mit abgestorbenen Bäumen.
Auch in der Schweiz kam Alarmstimmung auf. Bundesrat Alphons Egli warnte im August 1983: «Das Waldsterben hat ein Ausmass angenommen, wie wir es bisher gar nicht realisiert haben.» Jeder siebte Baum galt als krank. Am 5. Mai 1984 fanden sich um die 30'000 Demonstranten in Bern ein, die Massnahmen gegen das Waldsterben forderten.
Die Politik in Deutschland und der Schweiz reagierte auf die enorme Besorgnis in der Bevölkerung: Strenge Gesetze zur Luftreinhaltung, das Katalysator-Obligatorium für Autos und bleifreies Benzin wurden eingeführt.
1988 erschien in der Fachzeitschrift Nature ein Artikel, der die im deutschen Waldzustandsbericht angewandte Methode der Schadensermittlung harsch kritisierte und forderte, die Verwendung des Begriffs «Waldsterben» sei zu beenden. Im Laufe der 90er Jahre stellten sich viele der vermeintlichen Waldsterbe-Symptome als Fehldeutungen heraus. Doch erst im Sommer 2003 erklärte die deutsche Bundeslandwirtschaftsministerin Renate Künast das Waldsterben für beendet.
Heute sind über 30 Jahre vergangen seit den apokalyptischen Prognosen des deutschen Bodenforschers Bernhard Ulrich, der 1981 prophezeite: «Die ersten grossen Wälder werden schon in den nächsten fünf Jahren sterben. Sie sind nicht mehr zu retten.» Diese Voraussage trat – zum Glück – nicht ein. War das Waldsterben also reine Panikmache?
«Das Waldsterben», das sagt Bruno Röösli vom Bundesamt für Umwelt (Bafu), «das Waldsterben war kein Märchen.» Die Massnahmen, die man in den 80er Jahren ergriff, hätten Zustände verhindert, wie sie in Osteuropa eingetreten seien. Wirksam seien namentlich die Senkung des Schwefelanteils beim Heizöl und die Einführung von Autokatalysatoren gewesen.
Tatsächlich wirkte die Lenkungsabgabe auf Schwefel: Beim Schwefeldioxid sanken die Messwerte in städtischen Gebieten von 34 Mikrogramm pro Kubikmeter (1988) auf sechs Mikrogramm (2007). Noch stärker nahm der Bleigehalt in der Luft ab: 1991 waren es in städtischen Gebieten im Jahresdurchschnitt mehr als 250 Nanogramm pro Kubikmeter Luft, 2007 dagegen nahezu null.
Gleichwohl hat der Umstand, dass sich einzelne Forscher während der Hochkonjunktur des Themas Waldsterben mit übertrieben alarmistischen Aussagen die Aufmerksamkeit der Medien sicherten, der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft geschadet. Nicht zuletzt aus diesem Grund begegnen viele Leute den Klimaforschern heute mit Misstrauen, wenn diese vor den Gefahren des Klimawandels warnen.