Eine oft erwähnte Nebenerscheinung der Corona-Pandemie sind graue Haare. Und zwar nicht von Covid-Patienten, sondern von gesunden Menschen. Auch einige watson-Journalisten haben während der letzten Monaten eine beschleunigte Ergrauung an sich beobachten können.
Woran kann es liegen?
Die Binsenwahrheit lautet «Stress». Als anekdotische Evidenz werden dafür gerne die amerikanischen Präsidenten aufgeführt. Sie treten ihr Amt voll im Saft an und nach vier oder acht Jahren verlassen sie das Weisse Haus als Silberfüchse.
Doch stimmt der Gemeinplatz, dass Stress ein Faktor für beschleunigte Ergrauung ist? Lange Zeit tat sich die Wissenschaft mit dieser Korrelation schwer. So schreibt Robert H. Shmerling von der Harvard Medical School explizit, dass Stress die Haare NICHT grau färben kann.
Eine neue Studie, die im Januar 2020 im renommierten Wissenschaftsmagazin «Nature» publiziert wurde, will nun aber den endgültigen Gegenbeweis gefunden haben. Noch nicht am Menschen – aber bei Mäusen. Nicht wenige Forschungsergebnisse lassen sich von Mäusen auf Menschen übertragen.
Jeder Haarfollikel enthält Pigmentzellen, sogenannte Melanozyten, die dem Haar seine Farbe geben. Mit zunehmendem Alter produzieren Menschen weniger Pigmentzellen. Das hat zur Folge, dass unpigmentierte Haare spriessen – graue Haare.
Ab wann und wie stark die Produktion von Pigmenten heruntergefahren wird, ist zum Teil genetisch bedingt. Dermatologen sprechen in diesem Zusammenhang von der 50-50-50-Regel: 50 Prozent der Bevölkerung hat im Alter von 50 Jahren 50 Prozent graue Haare.
Zurück zur «Nature»-Studie. Sie legt nahe, dass unter akutem Stress Stammzellen geschädigt werden, die neue Melanozyten produzieren sollten. Wird eine sogenannte Kampf-oder-Flucht-Reaktion ausgelöst und das Stresshormon Noradrenalin ausgeschüttet, veranlasst das «schlafende» Melanozyten-Stammzellen «aufzuwachen», sich zu teilen und ... zu sterben. Die tatsächliche Produktion von Melanozyten wird dadurch verringert – es kommt zu vermehrt grauen Haaren. Wird dieser Vorgang unterdrückt, verringert sich auch die Ergrauung. Diesen Nachweis konnten die Studienautoren an Mäusen erbringen.
Eine Befragung der Universität Basel unter der Leitung von Neurowissenschaftler Dominique de Quervain mit über 10'000 Teilnehmern zeigte, dass die Corona-Pandemie auch in der Schweiz bei grossen Teilen der Bevölkerung eine Form von Stressreaktion auslöste. So gaben 57 Prozent der Befragten an, während des Lockdowns im Vergleich zu vor der Krise mehr Angst zu verspüren. 50 Prozent klagten über ein erhöhtes Stresslevel.
Ob dieses Level ausreichte, um die in der Studie beschriebene Kampf-oder-Flucht-Reaktion auszulösen, wird aus den Resultaten nicht klar. Um eine Kampf-oder-Flucht-Reaktion auszulösen, bedarf es einer akuten Bedrohung, die als existenzgefährdend eingeschätzt wird. Dass einige Menschen die diversen Einschränkungen während des Lockdowns und die ungewisse wirtschaftliche Zukunft so wahrgenommen haben, ist allerdings nicht nur vorstellbar, sondern auch verständlich.
Dass es vom Lockdown kommt, bezweifle ich aber sehr.
Das ist die verflixte Natur.