Nur noch wenige Tage, dann sind wir Präsidentin. Endlich! Grossartig! Viele Jahre nach Ceylon, Indien, Israel, Grossbritannien, Portugal, Norwegen, der Ukraine, Deutschland und Dutzenden anderer Länder werden dann auch die USA von einer Frau regiert. Leute, die USA! Das mächtigste Land der Welt! Was für eine berauschende Vorstellung! Falls alles gut geht.
Dabei können sich die USA schon lange eine Frau an der Spitze vorstellen. Schon seit über hundert Jahren. Wobei die Sache mit der Vorstellung natürlich öfter eine Horrorvorstellung war. Die dunkle Seite einer zukunftsbejahenden Wissenschafts- und Technikgläubigkeit. Dark Science Fiction quasi.
Eine besonders abgeklärte Meinung vertrat 1893 die kleine «Roanoke Times» unter dem Titel «When a Woman Is President». Sie berief sich dabei auf eine noch kleinere Publikation der katholischen Kirche.
Die beiden waren sich einig: Wenn die Geschichte so erfolgreiche Regentinnen wie Katharina die Grosse, Maria-Theresia und – damals gerade aktuell – Queen Victoria kennt, so dürfte eine amerikanische Präsidentin (und mit ihr weibliche Senatsmitglieder) wirklich keine Gefahr für das Volkswohl darstellen. Die «Revolution» läge einzig darin, dass eine Präsidentin nicht über eine dynastische Erbfolge, sondern über eine Volkswahl an die Macht kommen müsste.
Auf der gleichen Zeitungsseite fand sich auch der Debattenbeitrag «May Women Smoke», der in der erstaunlichen Erkenntnis gipfelte, dass Rauchen aus zarten Frauen starke Frauen macht:
Was schliessen wir daraus? Frauen, raucht euch ganz einfach zur Präsidentschaft!
Das grosse Bashing begann, als die amerikanischen Suffragetten aktiv für das Frauenstimmrecht zu kämpfen begannen. «Who wants to be a Presidentess»? fragte 1909 ein Leserbrief in der «New York Times» und teilte gleich mal gegen die damalige First Lady Edith Roosevelt aus:
Die Möglichkeit einer Präsidentin wurde zur Zumutung und Gefahr:
Auch eine Schülerin, die sich erdreistete, an ihrer Mädchenschule eine feministische Abschlussrede zu halten, schaffte es grossräumig in die Zeitung:
Zu den prominentesten Suffragetten zählte die Operndiva Lillian Nordica, eine Frau, deren Leben so dramatisch war wie Wagner, die zwischen Amerika, Australien und Bayreuth pendelte, sich zweimal scheiden liess und ihren dritten Mann aus ihrem Testament strich. Ihr Lieblingsthema: eine Frau an der Spitze Amerikas.
Als sie wieder einmal nach Australien reiste, rammte ihr Schiff ein Korallenriff, sie erlitt eine Unterkühlung und starb an einer Lungenentzündung.
Weit mehr Spass und Leidenschaft als am Entwurf einer feministischen Utopie hatten die amerikanischen Medien an technologischen Visionen. 1922 stellte sich die Sonntagszeitung «American Weekly» New York im Jahr 2022 so vor: Auf Strassenebene gibt es nur noch Park- und Wasseranlagen, die mit riesigen Rollbändern ausgerüstet sind.
Der Verkehr wird über Hochstrassen geführt. Jeder Mensch hat ein Recht auf ein eigenes Auto und ein eigenes Flugzeug. Luftschiffe sind Teil des öffentlichen Verkehrs. Alle Transportmittel bewegen sich geräuschlos. Im Restaurant werden die Bestellungen über einen Tischlift direkt von der Küche zum Gast geliefert, Servicepersonal ist weitgehend überflüssig. Alle Wolkenkratzer sind genau 80 Stockwerke hoch.
Nordicas Mitstreiterinnen sahen die grösste Gefahr für die Verhinderung einer Frau als Präsidentin tragischerweise in der Frau selbst. 1916 erklärte die Feministin Berneice Marshall dies in der «Washington Times»: Die Frau kenne die Welt ausserhalb ihres Haushalts gar nicht und fürchte sich davor.
Über Politik könne sie weder reden noch nachdenken, weil sie weder in der Schule noch als Ehefrau damit in Kontakt käme. Mit diesem bequem in seiner Unmündigkeit verharrenden Hausmütterchen schien eine politische Einflussnahme unmöglich:
Andere dagegen beschäftigten sich bereits mit futuristischen Benimmregeln:
Mit einer Frau an der Macht, so beschwor die «New York Times» 1920, würden Frauen Hosen tragen, die Regierungsgebäude wären voller schreiender Babys, Tabak würde milder und die virile Kraft und das Ansehen der USA allgemein gemindert.
1928 sagte die «Los Angeles Times» fürs Jahr 1975 korrekt den Minirock voraus, einen Himmel voller Flugzeuge und das gnadenlose Matriarchat:
Ja sicher. Männer als Haustiere. Und umgekehrt. Sodom und Gomorrha und so. Trotzdem werden wir jetzt Präsidentin. Jetzt!
Die medialen Quellen zu diesem Beitrag finden sich über den Artikel «Predictions of a Presidentess» der Technikjournalistin Adrienne LaFrance in «The Atlantic».