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Ein Student hilft am Bahnhof Wien den Flüchtlingen und schreibt darüber. Sein Bericht geht unter die Haut

Essen, Trinken, Zahnpasta, Duschgel: Die Flüchtlinge werden von Freiwilligen mit dem Nötigsten ausgestattet, bevor sie weiter nach Deutschland reisen.
Essen, Trinken, Zahnpasta, Duschgel: Die Flüchtlinge werden von Freiwilligen mit dem Nötigsten ausgestattet, bevor sie weiter nach Deutschland reisen.Bild: EPA/APA

Ein Student hilft am Bahnhof Wien den Flüchtlingen und schreibt darüber. Sein Bericht geht unter die Haut

Ungarn liess Anfang Woche Tausende Flüchtlinge nach Westen reisen. Gebannt erwartete man deren Ankunft in Wien. Statt mit Hetze und Polizeieinsätzen wurden sie von Hunderten engagierter Helfer empfangen. Ein Augenzeugenbericht aus dem Wiener Westbahnhof.
03.09.2015, 12:1406.09.2015, 22:24
jakob bouchal, Wien
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Nachdem die ungarische Polizei am Montag den grossteils syrischen Flüchtlingen, die bereits seit Tagen in Budapest am Bahnhof campierten, überraschend die Weiterreise gestattete, sind im Laufe des Abends einige völlig überfüllte Züge mit übermüdeten, hungrigen und durstigen Menschen in Wien angekommen. Fast alle von ihnen sind jedoch nur auf der Durchreise, «Which train to Germany?» werde ich ständig gefragt.

«In kürzester Zeit ist im Merkur die gesamte Obstabteilung leergekauft, auch die Regale mit den Wasserflaschen, wir kaufen, so viel wir zahlen und tragen können.»

Vor Ort sind am frühen Abend bereits Dutzende Menschen, grossteils in meinem Alter, die die ankommenden Flüchtlinge mit Obst, Wasser und Brot versorgen. Dankbar greifen die Menschen aus den Zügen, die allesamt sehr müde aussehen, schnell nach ein, zwei Bananen und einer Flasche Wasser, bevor sie in den bereits wartenden Zug nach Salzburg drängen, von wo aus es weiter nach Deutschland gehen soll. 

In kürzester Zeit ist im Merkur am Westbahnhof die gesamte Obstabteilung leergekauft, auch die Regale mit den Wasserflaschen, wir kaufen, so viel wir zahlen und tragen können, auch Mannerschnitten für die Kinder, Windeln und Babynahrung für die Kleinsten. Später lässt der Filialleiter einen ganzen Wagen mit Getränken aus dem Lager zu den Gleisen bringen. 

Helfer verteilen Lebensmittel und Hygieneartikel am Westbahnhof in Wien.
Helfer verteilen Lebensmittel und Hygieneartikel am Westbahnhof in Wien.Bild: EPA/APA

Suche nach den Kindern

Plötzlich Aufruhr am Bahnsteig, eine Menschentraube, mitten drin ein verzweifelter junger Mann, der einen weinenden kleinen Jungen hochhält, der seine Eltern verloren hat. Panisch ruft er den Namen des Jungen, «Aziz, Aziz», der Kleine wird auf den Schultern am Bahnsteig herumgetragen, sein Name wird von Dutzenden Menschen laut gerufen und weitergesagt, jeder hilft, schliesslich können unter Tränen die Eltern gefunden werden, es gibt Applaus.

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Minuten später steht eine Frau weinend neben mir am Bahnsteig. Ich frage sie was los ist, ein junger Mann übersetzt bereitwillig: ihr 10-jähriger Sohn ist beim Aussteigen verschwunden. Wieder helfen alle zusammen, die Flüchtlinge rufen den Namen des Kindes am Bahnsteig, in den wartenden Zügen. Nach wenigen Minuten wird er von einem Mann gefunden und zur Mutter gebracht. 

«Mittlerweile sind hunderte Menschen am Bahnhof, die winkend mit Willkommensrufen auf Deutsch, Englisch und Arabisch die ankommenden Flüchtlinge begrüssen.»

Mittlerweile werden die Helferinnen und Helfer mehr und mehr, im Minutentakt trudeln Privatpersonen mit Einkaufswagen voller Essen und Wasser ein, auch die Suppenküche der Caritas ist eingetroffen, zwischen Gleis vier und fünf hat eine Gruppe junger Menschen angefangen, die bereits gewaltigen Mengen an Wasserflaschen und Nahrungsmitteln in kleine Pakete abzupacken. Alle helfen zusammen, was fehlt, wird aus eigener Tasche gekauft.

«Österreich ist ein gutes Land» – die Flüchtlinge sind heilfroh, nach der beschwerlichen Reise über den Balkan in Österreich angekommen zu sein. Bild: Hans Punz/AP/KEYSTONE

Die ÖBB bedanken sich auf den Monitoren, die sonst über Abfahrtszeiten informieren, bei den Helfern, und geben an, was dringend gebraucht wird: Hygieneartikel für die Menschen, die in den bereitgestellten Quartieren übernachten werden, um am nächsten Tag nach Deutschland weiterzureisen. Viele Menschen, die Arabisch oder Farsi sprechen, sind mittlerweile zum Bahnhof gekommen und übersetzen, wo es notwendig ist, oder sagen einfach nur den Neuankömmlingen, dass sie hier in Sicherheit sind. 

«Der Vater lächelt müde, hält seinen Sohn fest an der Hand, sagt im Vorbeigehen leise ‹Thank you, thank you, thank you›, und wir kämpfen beide mit den Tränen.»
Helfer des Roten Kreuzes betreuen die Ankommenden in einer Halle am Westbahnhof.
Helfer des Roten Kreuzes betreuen die Ankommenden in einer Halle am Westbahnhof.Bild: EPA/APA

Nur raus aus Rumänien und Serbien

Gegen Mitternacht rollt ein weiterer Railjet aus Budapest unter Applaus ein, es ist der vorletzte Zug für heute, mittlerweile sind Hunderte Menschen am Bahnhof, die winkend mit Willkommensrufen auf Deutsch, Englisch und Arabisch die ankommenden Flüchtlinge begrüssen. Ein Mann sagt mir weinend in gebrochenem Englisch, dass er kaum glauben kann, wie herzlich er hier empfangen wird.

Sonderinformation der Österreichischen Bundesbahn: Lebensmittel sind genug vorhanden, benötigt werden noch Hygieneartikel. 
Sonderinformation der Österreichischen Bundesbahn: Lebensmittel sind genug vorhanden, benötigt werden noch Hygieneartikel. Bild: jakob bouchal/facebook

Die Flüchtlinge erzählen von schlechter Behandlung in Rumänien und Serbien, viele wissen gar nicht genau, wo sie hier momentan sind, diejenigen, die es wissen, sagen, Österreich ist ein gutes Land.

Ein kleiner Junge zeigt mir strahlend eine Flasche Cola, die er ergattert hat, sein Vater hat eine grosse Flasche Wasser, einige Nektarinen und ein halbes Fladenbrot bekommen, eine Zigarette wird ihm angeboten. Sonst haben die beiden gar nichts, kein Gepäck, keine Koffer, nur was sie am Körper tragen. Der Vater lächelt müde, hält seinen Sohn fest an der Hand, sagt im Vorbeigehen leise «Thank you, thank you, thank you», und wir kämpfen beide mit den Tränen.

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Jakob Bouchal.
Jakob Bouchal.
bild: christineebenthal/diepresse

Der Autor: Jakob Bouchal studiert tagsüber in Wien Rechtswissenschaften und ist in der Nacht als DJ in den Clubs unterwegs. Die Flüchtlingskrise hat ihn dazu bewegt, sich persönlich für die hilfsbedürftigen Menschen zu engagieren. Zwei Tage lang war er am Wiener Westbahnhof, um die ankommenden Flüchtlinge zu unterstützen. Dieser Text wurde am Mittwoch auf seiner Facebook-Seite gepostet und uns zur Verfügung gestellt.

Flüchtlinge haben Gesichter

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Flüchtlinge haben Gesichter
In Europa sind die Flüchtlinge immer wieder Gesprächsthema. Ein wirkliches Gesicht von Flüchtlingen kennen jedoch die wenigsten.
quelle: getty images europe / dan kitwood
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25 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Duweisches
03.09.2015 12:40registriert Juni 2015
Schön zu sehen das es noch "menschliche" Menschen gibt, mit Mitgefühl und Hilfsbereitschaft...
Eine tolle Story, bringt wohl jeden wirklich zum Nachdenken dessen Kopf nicht mit braunem Müll gefüllt ist... 👍
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Eisenhorn
03.09.2015 13:20registriert September 2014
Ich versuche diese Züge positiv zu sehn, bis jetzt waren die Flütchtlinge auf Lampedusa und co. immer gaaanz weit weg und wie man weiss "Aus den Augen aus dem Sinn". Wenn diese Leute aber in Wien am Bahnhof aussteigen ist dies eine andere Sache. Und es ist rührend zu sehen wie sich die Leute verhalten in Wien. Hut ab vor all diesen Freiwilligen!
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YesImAMillenial
03.09.2015 13:29registriert Juli 2014
was für ein guter Mensch! sollte es in Zürich so weit kommen, bin ich bereit!!!
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