Kurz bevor wir am Sonntag über die Zuwanderungsinitiative abstimmen, ist die Zuwanderung an der Grenze zu Basel von Amtes wegen bereits begrenzt worden. Das erste Opfer: die deutsche Pizza. Die Eidgenössische Zollverwaltung will sämtliche Pizzalieferungen von Deutschland in die Schweiz bewilligt haben, und damit auch alles seine Richtigkeit hat, gibt es die Bewilligungen für Pizzakuriere nur zu Bürozeiten. Was lustig tönt, könnte unlustige Folgen haben. Erinnern Sie sich noch an die Zehnkilometer-Staus vor der deutschen Grenze? Als die Deutschen 2004 die Fahrzeugkontrollen am Zoll ein wenig anzogen? Weil die EU in den Verhandlungen um ein Zinsbesteuerungsabkommen ungeduldig wurde?
Ähnliche Vergeltungsmassnahmen, nur in ernsthafterem Ausmass und mit viel weitreichenderen Folgen, haben Schweizer Wirtschaft, Politik und Bevölkerung zu erwarten, wenn wir anfangen, EU-Bürger und Drittstaaten-Angehörige so zu behandeln, wie unsere Zollverwaltung deutsche Pizzen. Doch genau das verlangt die rückwärtsgewandte Initiative zur Begrenzung der Masseneinwanderung. In völliger Negierung der geo- und wirtschaftspolitischen Kräfteverhältnisse soll die Schweizer Verwaltung selbst bestimmen können, wie viele EU-Bürger oder sonstige Ausländer wann und zu welchem Zweck ins Land gelassen werden.
Die Folgen eines solchen Entscheides seien nicht absehbar, behaupten die Gegner der Initiative hie und da. Dabei sind die Folgen absolut absehbar: Die bilateralen Verträge mit der EU müssten gekündigt und neu ausgehandelt werden und die Position der Schweizer Verhandlungsdelegierten wäre dabei alles andere als eine Position der Stärke. Mehr als die Hälfte aller Schweizer Exporte gehen in die EU. Der Anteil der EU-Exporte in die Schweiz liegt hingegen bei unter acht Prozent. Wer auf wen eher angewiesen ist, ist unter diesen Vorzeichen klar. Ebenso sicher ist die Wette, dass die EU der Schweiz die Personenfreizügigkeit und damit eines ihrer konstituierenden Elemente erneut aufzwingen wird - nur zu schlechteren Rahmenbedingungen. Schon allein deswegen ist die Masseneinwanderungs-Initiative ein untaugliches Mittel, um den Problemen zu begegnen, die mit der starken Zuwanderung einhergehen.
Dabei sind die angesprochenen Probleme eher marginaler Natur. Müsste man nach einer Kurzumfrage an einem Stadtzürcher Stammtisch eine Dringlichkeitsliste dieser angeblichen Probleme erstellen, dann kämen in dieser Reihenfolge: Überfüllte Züge, verstopfte Autobahnen, zu hohe Mieten, kein Platz im Zoo-Restaurant um 12.00 Uhr mittags. Zusammengefasst: Dichtestress. Dieser Euphemismus für Überfremdungsangst hat seinen Ursprung im grün-liberal-urbanen akademischen Mittelstand Zürichs, dort also, wo ein Wohnsitz ausserhalb der Stadtkreise 3, 6 oder 8 den ultimativen gesellschaftlichen Abstieg symbolisiert. Oder ein Deutscher, der einem die lang ersehnte Beförderung vereitelt, weil er bereit war, von Hamburg nach Zürich zu dislozieren, während man selbst nicht einmal in Betracht zöge, in Fällanden ZH zu arbeiten. Der Rest der Schweiz kennt den Dichtestress hauptsächlich aus den Medien, welche zur Hauptsache der eben beschriebene grün-liberal-urbane akademische Zürcher Mittelstand produziert.
Das weitaus dringendere gesellschaftliche Problem als die latente mittelständische Abstiegsangst, ja die absolut zentrale Herausforderung der Zukunft, stellt die demographische Entwicklung dar. Die Schweizer Erwerbsbevölkerung wird weiterhin schrumpfen, während die Zahl der über 80-Jährigen sich bis 2030 von 300’000 auf 800’000 mehr als verdoppeln wird. Weder Kosten für die Pflege, noch die Finanzierung deren Renten können wir mittelfristig ohne die Zuwanderung einer grossen Zahl junger, arbeitstätiger Menschen bewältigen. Gewiss werden nicht alle kommen, um im Altersheim zu arbeiten, und ja, der Wettbewerb um gute Arbeitsstellen, der Druck auf die Löhne des Mittelstandes und der Run auf Wohnraum wird zunehmen. Aber es grenzt schon an intellektuellen Dichtestress, zu glauben, wir kämen darum herum, uns diesem Wettbewerb zu stellen und dabei den gewohnten Lebensstandard halten zu können.
Die unabhängige, freie und reiche SVP-Schweiz mit ihrer selbstgewählten Neutralität, Autonomie und Freiheit, nicht nur im militärischen, sondern auch im wirtschaftspolitischen Bereich, hat so nie existiert und wird auch nie existieren. Als Kleinstaat blieb der Schweiz seit dem Wiener Kongress von 1815 nie etwas anderes übrig, als im Konzert der grossen geopolitischen Machtblöcke nach deren Takt zu spielen. Daran ändert keine Blocher-Rede etwas. Die Ära des Wirtschaftswunders und des Kalten Krieges, in der die Schweiz als rückwärtiger Raum für politisch und wirtschaftlich heikle Operationen diente und ihren Wohlstand zu einem guten Teil diesem Standortvorteil und weniger volkswirtschaftlichen Anstrengungen verdankte, ist vorbei und wird nicht wiederkommen.
Aber auf das Erbe dieses Nachkriegsreichtums müssen wir jetzt bauen. Wir haben eine gute Infrastruktur, sind politisch und wirtschaftlich auch international gut vernetzt und haben den Ruf, eine hohe Lebensqualität zu bieten. Wir haben damit die besten Voraussetzungen, die weltweit grössten Talente und tüchtigsten Arbeiter - das beste Humankapital der Welt - innerhalb unserer Grenzen zu versammeln. Vor diesem Hintergrund wären wir besser beraten, die langfristig unverzichtbare Zuwanderung mit einer weitsichtigen Raum- und Verkehrsplanung proaktiv zu begleiten statt sie zu drosseln. Und gleichzeitig ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass in der Schweiz der Zukunft Leistungsbereitschaft und -ausweis das einzige ist, was zählt. Und nicht der Pass, die soziale, ethnische oder religiöse Herkunft.
Denn man kann vielleicht deutsche Pizzen an der Grenze zu Basel aufhalten. Nicht aber den Migrationsdruck einer globalisierten Wirtschaft.