Einen Interviewtermin bei der Bundespräsidentin zu bekommen ist nicht einfach. Mails gehen hin und her. Doch dann stehen wir vor dem Bundeshaus West. Kaum drin, ruft ein Bundesratsweibel in grünem Uniform-Mantel. «Sie sind von der AZ?» Simonetta Sommaruga wirkt gut gelaunt, entspannt. Wir erklären, welche Art Interview wir machen wollen, es gehe also nicht primär um Fragen zu politisch heiklen Dossiers. «Die anderen Fragen sind oft noch schwieriger», sagt die Bundesrätin und lacht herzhaft.
Frau Bundespräsidentin, Sie machen sich stark für Frauenquoten. Auf dem Bundesratsfoto mit Kanzler von 2016 werden nur noch zwei Frauen, aber sechs Männer zu sehen sein. In Ihrem Präsidialjahr waren es vier und vier. Wie mutet Sie das an?
Simonetta Sommaruga: Ich heisse Herrn Bundesrat Parmelin und Herrn Bundeskanzler Thurnherr herzlich willkommen in diesem Gremium. Aber ich gehe schon davon aus, dass es bei der nächsten Vakanz wieder eine Frau gibt.
Warum ist Ihnen das wichtig?
Man weiss, dass gemischte Teams besser arbeiten, das entspricht auch meiner persönlichen Erfahrung. Es ist also im Interesse von allen, dass wir im Bundesrat ein gemischtes Team haben.
Frauenmangel ist nicht das eigentliche Problem: Im Journalismus etwa arbeiten sehr viele Frauen – nur in den Chefetagen fehlen sie. Glauben Sie wirklich, dass Quoten in Verwaltungsräten, wie Sie in Ihrer Revision des Aktienrechts vorschlagen, das in absehbarer Zeit ändern werden?
Die Situation ist einfach ernüchternd, gerade in grossen börsenkotierten Unternehmen. Und es ist ja nicht so, dass es keine gut ausgebildeten Frauen gibt. Was ist denn Ihre These? Warum schaffen es Frauen im Journalismus nicht in die Chefetagen?
(Mhm, wer stellt hier die Fragen?) Ich glaube, weil man wenig darüber nachdenkt und vor allem weil Männergremien die Chefs wählen und sie diese in ihrem Umfeld suchen.
Genau dort setzen wir an mit unseren Geschlechter-Zielwerten. Es sind ja sanfte Ziele, Sanktionen sind nicht vorgesehen. Aber wir sind der Überzeugung, dass es auch eine Aufgabe der Wirtschaft ist, dafür zu sorgen, dass Frauen die gleichen Chancen haben. Wenn man einen Quoten-Zielwert hat, ist man gezwungen, die Planung früher zu beginnen und Frauen aufzubauen. Der Bundesrat baut dafür nun einen sanften Druck auf.
Ist dieser Druck nicht zu sanft?
Wenn ich die heftigen Reaktionen anschaue, die nur schon die Ankündigung ausgelöst hat, meine ich nein. Wobei diese Reaktionen aus Kreisen kommen, die von Gleichstellung sowieso nichts wissen wollen. Ich glaube, wenn wir mit sanftem Druck weitermachen, wird die Gleichstellung einmal zur Selbstverständlichkeit.
Darauf warte ich, seit Jahrzehnten. Vergebens. Wagen Sie eine Prognose, bis wann die Quoten stimmen?
Nein, denn wenn wir so weiterfahren wie in den letzten 20, 30 Jahren, kommen wir nicht sehr weit. Aber im Bundesrat möchten wir jetzt sowohl bei den Quoten wie bei der Lohngleichheit vorwärtsmachen. Nachdem die Lohngleichheit seit über 30 Jahren in der Bundesverfassung steht, und eigentlich immer alle darauf beharren, dass man die Verfassung umsetzt, heute aber immer noch Lohnunterschiede bestehen, die man nicht begründen kann: Dann ist das ein … (zögert) ... ein Skandal.
Was ging schief?
Freiwilligkeit und Selbstverantwortung haben nicht funktioniert. Darum ist es Zeit für diesen vorsichtigen Eingriff des Bundesrats, dass Grossunternehmen mit über 50 Mitarbeitenden die Löhne analysieren müssen und diese Analyse kontrollieren lassen.
Freiwilligkeit und Selbstverantwortung haben nicht funktioniert. Darum ist es Zeit für diesen vorsichtigen Eingriff des Bundesrats, dass Grossunternehmen mit über 50 Mitarbeitenden die Löhne analysieren müssen und diese Analyse kontrollieren lassen.
Für ein solches Vorgehen brauchen Sie politische Mehrheiten – und die gab es bisher nicht. Man war der Meinung, das kommt schon, bitte Geduld. Ich glaube, der Weg des Bundesrates hilft. Über 50 Prozent der Unternehmen, die eine solche Lohnanalyse gemacht haben, haben danach ihre Löhne angepasst. Und sie haben das selber als positiv erlebt: Es war gut fürs Klima, war motivierend für die Mitarbeiterinnen.
Haben Sie selber je gedacht: Ich wäre lieber ein Mann?
Ich glaube, ich habe eine blühende Fantasie, aber das kam mir noch nie in den Sinn (lacht).
Mir schon. Schon als Kind. Als Bub hätte ich weniger in die Nähschule gemusst und weniger abwaschen müssen …
… bei uns musste nicht abwaschen, wer Musik geübt hat.
Da haben Sie sicher oft geübt! Klavierspielen war Ihr erster Beruf, dann sind Sie via Konsumentenschutz und Gemeinderat in die Politik eingestiegen. Verglichen mit dem offenen Feld der Kultur scheint mir in der Politik der Spielraum eng: Warum haben Sie gewechselt?
Dass ich mit der Musik aufgehört habe, da haben einige Zufälle mitgespielt. Aber Kultur und Politik haben mehr miteinander zu tun, als Sie es dargestellt haben. Es sind beides sehr kreative Tätigkeiten. Politik ohne Kreativität wäre furchtbar. Politik heisst Lösungen suchen, Alternativen finden, auch Gesetze formulieren – also in Sprache fassen, was nachher als Regeln für alle Menschen gilt. Das ist sehr kreativ.
Und Sitzungen lieben Sie auch?
Bundesratssitzungen, bei denen man manchmal heftig streitet, sind wie Kammermusik. Da gibt es auch Dissonanzen. Aber man hört aufeinander, jeder bringt sich ein – und dann spielt man wieder zusammen. Politik wie Kultur brauchen Ausdauer und Hartnäckigkeit. Das Kreative bestimmt mein Leben, ohne könnte ich nicht sein. Aber natürlich: Es gibt auch sehr harte Bundesratssitzungen, die mit Kammermusik wenig zu tun haben.
Richtig schräg und gegen den Strich denken, das passiert in der Kultur, bei Schriftstellerinnen, Filmern. Die können die Welt anders denken, neu erfinden. Als Politikerin müssen Sie sich an der Realität orientieren.
Denken darf ich, was ich will. Auch als Bundespräsidentin (lächelt). Ja, natürlich haben Kulturschaffende eine ganz andere Rolle als Politiker. Und ohne Kultur können wir Menschen nicht leben. Es ist die Kultur, die unser Wesen prägt, uns letztlich zu Menschen macht. Aber auch Politik hat etwas Gestaltendes, in der Politik legen wir die gesellschaftlichen Regeln fest. Das ist gerade auch in meinem Departement faszinierend. Nehmen Sie das Familienrecht: Es gibt heute so viele Formen des Zusammenlebens. Wie können wir das abbilden im Gesetz? Wie kann man gleichgeschlechtlichen Paaren ihr Recht geben? Wie muss sich das Adoptionsrecht verändern? Mit solchen Überlegungen kann man etwas verändern und prägen.
Sie sind vom Typ her Realistin. Denken Sie manchmal doch in der Möglichkeits- statt in der Wirklichkeitsform, in Sience-Fiction-Ideen?
Science-Fiction lese ich nicht. Aber ich lese – jeden Abend wenigstens ein paar Seiten. Für mich ist es wichtig, mit einem Roman in andere Welten oder in frühere Zeiten einzutauchen. Ich habe kürzlich von Émile Zola «Germinal» gelesen, in dem er beschreibt, wie es den Kohle-Bergwerk-Arbeitern Ende des 19. Jahrhunderts ergangen ist. Er schreibt von Streiks, gesellschaftlichen Veränderungen … Ich liebe diese anderen Welten, auch in der Musik. Sie ist zumindest an meinen Wochenenden präsent. Mit Bach kann ich mein Koordinatensystem wieder einstellen.
Beruflich haben Sie Ihr Koordinatennetz, das Justiz-Department, behalten. Mit der Begründung: «Die Dossiers liegen mir am Herzen.» Ich nehme an, Sie meinten vor allem die schwierigen Dossiers Zuwanderung, Flüchtlinge, Asylwesen, die Verhandlungen mit Brüssel?
Ob mir Brüssel am Herzen liegt …? In Brüssel regnet's fast immer (lacht). Aber im Ernst: Im EJPD geht es oft um Menschen – bei den Themen, die Sie genannt haben, aber auch im Scheidungsrecht oder bei der Regelung der elterlichen Sorge. Das sind hochemotionale, schwierige Themen. Wie etwa auch das Erbrecht, das von den Einzelnen ja total unterschiedlich wahrgenommen wird, je nachdem, ob sie in der Situation sind zu vererben oder zu erben. Bei den Verdingkindern bin ich froh, dass wir innert kurzer Zeit viel ans Tageslicht bringen konnten und diesen Menschen, die so viel Leid erlitten hatten, wieder Anerkennung geben konnten. Und eine ganz wichtige Rolle spielt im EJPD auch die Sicherheit, eines der ganz starken menschlichen Bedürfnisse.
Ist in der Flüchtlingsfrage Angela Merkel mit ihrer Offenheit, ihrem «wir schaffen das» ein Vorbild für Sie?
Frau Merkel hat mich bei ihrem Besuch hier sehr beeindruckt. Auch wenn sie vielleicht nicht alles richtig gemacht hat. Bemerkenswert und richtig ist, dass sie in dieser Situation immer die menschliche Dimension betont. Dafür bin ich ihr dankbar – und ich schliesse mich dieser Haltung an. Auch ihrer Überzeugung, dass kein Land in Europa diese Situation alleine lösen kann. Es braucht eine solidarische, menschliche Flüchtlingspolitik in Europa.
Bei der Diskussion im Nationalrat hat es Ihnen letzthin den Hut gelüpft. Als die SVP systematische Grenzkontrollen verlangte und Ihnen vorwarf, sie täten nichts, sagten Sie: «Meinen Sie, wir seien blöd …» War das einstudiert oder spontan?
(Lacht.) Da trauen Sie mir sehr viel zu. Nein, das kann man nicht einstudieren. Das war im Moment einfach das, was es brauchte.
Wenn ich als Journalistin einen Kommentar schreibe, schreibe ich meine eigene Meinung oder nichts. Für Sie als Bundesrätin gilt das im Grundsatz sehr gute Kollegialitätsprinzip. Sie müssen – etwa beim Asylgesetz – Bundesrats-Entscheide vertreten, die nicht Ihrer Haltung entsprechen. Ist das schwierig?
Ja, das ist etwas vom Schwierigsten.
Sie müssen dabei ja quasi sich selber verleugnen.
(Zögert.) Nein, weil ich bei den Prozessen im Bundesrat dabei war, weiss ich, warum das Gremium so entschieden hat und kann das dann auch vertreten. Diese Kollegialität ist ein zentrales Prinzip in unserem politischen System.
Hätten Sie manchmal gerne mehr Macht? Selber entscheiden, statt alles dem Bundesrat, Parlament oder dem Volk vorlegen?
Aber sicher, das könnte es tatsächlich ab und zu geben … (lacht). Aber sobald die Vernunft wieder wirkt, bin ich sehr froh, dass die Macht in der Schweiz vielfach gebrochen und verteilt ist – auf die Bevölkerung, die Kantone und Gemeinden, auf die Gerichte, das Parlament und den Bundesrat. Und ich bin froh, dass nicht einzelne Personen in unserem Land entscheiden können.
Das ist sehr diplomatisch gesagt. Soll ich fragen, wen Sie meinen?
(Lacht). Oh, das kann sich jeder selber überlegen.
Welche Werte sind Ihnen am wichtigsten? Bitte drei Begriffe.
(Zögert.) Das ist schwierig so spontan. Eines ist sicher Verlässlichkeit. Dann Gerechtigkeit und … die Würde des Menschen. Das ist vielleicht kein Wert im klassischen Sinn, aber nach ihr richte ich mein ganzes politisches Handeln aus.
Sie sind katholisch aufgewachsen, aus der Kirche sind Sie aber früh ausgetreten. Vermissen Sie religiöse Rituale nicht, etwa an Weihnachten?
Nein. Ich gehe gerne in Kirchen, liebe sakrale Musik, ich habe früher in einem Kirchenchor gesungen. An der katholischen Kirche stört mich aber, dass Frauen nicht Priesterinnen werden können, dass sie nicht die gleichen Rechte haben wie die Männer. Die Institution ist mir nur schon deshalb fremd. Aber religiöse Rituale und Spiritualität sind mir überhaupt nicht fremd.
Morgen endet Ihr Jahr als Bundespräsidentin. Sind Sie traurig oder froh?
Es ist etwas Wehmut dabei, ich war gerne Bundespräsidentin. Aber dass dieses Amt jedes Jahr wechselt, ist Teil unseres guten Systems, Macht in unserem Land nicht zu kumulieren. Für mich war es ein intensives, anspruchsvolles Jahr mit vielen Höhepunkten, Glanzmomenten – aber auch mit dunkeln Farben.
Mein Foto des Jahres zeigt Sie und die kosovarische Präsidentin Atifete Jahjaga, beide im roten Deux-Pièces, beide lachend über die Ähnlichkeit. Müsste das nicht peinlich sein?
Nein! Wir haben beide herzhaft darüber gelacht. Wir sind ja in der Politik und nicht in der Modebranche tätig. Und vor einem Staatsbesuch informiert man sich nicht, was man tragen wird. Ich wusste also auch nicht, was Frau Merkel anzieht. Bei Herrn Hollande und allen anderen Männern wusste ich es: dunkler Anzug.
Welches war der dunkelste, schwierigste Moment in diesem Jahr?
Die Terrorattacke in Paris. Als man feststellen musste: Jetzt ist der Terror bei uns in Europa angekommen, in Strassen, die man kennt und liebt. Es ist schwierig, damit umzugehen. Denn es kommen viele Gefühle zusammen: Schrecken, Trauer, Unsicherheit, auch Wut. Und gerade in dieser Situation ist es wichtig, dass wir aufbegehren und sagen: Wir verteidigen unsere Freiheit und das, was unser Europa ausmacht. Der Solidaritätsmarsch in Paris Anfang Jahr, wo das alles zum Ausdruck kam, war deshalb ein ganz starker Moment für mich.
Wie sehen Sie Ihre Zukunft nach dem Bundesrat: UNO-Botschafterin oder Berner Rentnerin?
(Lacht überrascht.) Sie können mit mir über vieles reden, aber nicht über meinen Rücktritt. Darüber mache ich mir überhaupt keine Gedanken. Ich freue mich auf das nächste Jahr und bin voller Tatendrang. Ich bin glücklich als Bundesrätin.
Früher sagte man über unfähige Frauen in hohen Positionen, sie hat sich nach oben geschlafen. Heute heisst es, sie ist eine Quotenfrau. Respekt hat niemand vor solchen Frauen. Und das Schlimmste: Die wirklich begabten Frauen geraten in den Ruch, eine Quotenfrau zu sein. Mehr Schaden kann man der Sache der Frau nicht zufügen. Die Frauenquote können nur Frauenhasser wollen.