«Wir brauchen nicht viel Luxus, mein Bub und ich. Wir brauchen einfach ein Zuhause in dieser Gegend», sagt Alessandra. Sie sitzt in der Küche ihrer 3-Zimmer-Wohnung. Baujahr 1964. Risse in den Fliesen. Drei alte Herdplatten. Kein Geschirrspüler. Keine Schubladen, ausser einer kaputten unter dem Kühlschrank.
Mit einem Schulterzucken weist Alessandra auf diese Dinge hin. Sie hat sich längst mit den Eigenheiten ihrer Wohnung arrangiert. Damit, dass sie beim Betreten der Wohnung zuerst eine Treppe hochsteigen muss, um zur Küche und zum Wohnzimmer zu gelangen. Und nochmals eine Treppe, wenn sie ins Schlafzimmer oder zur Toilette will.
Damit, dass im Winter Schimmelpilze an den Fenstern wachsen. Dass an der Schlafzimmerdecke ein Wasserschaden immer grösser wird. Dass sie das Abflussrohr ihrer Waschmaschine bei Benützung unter den WC-Ring klemmen muss. Oder dass dutzende Marienkäfer in den Mauerritzen ihrer Küche überwintern. «Ich finde das inzwischen schon fast heimelig», sagt Alessandra und lacht.
Während sie das erzählt, bleibt ihr Sohn in seinem Zimmer. Er ist 15 Jahre alt und autistisch. Er tue sich schwer mit Fremden. Und noch schwerer mit Veränderungen, erklärt die alleinerziehende Mutter. Doch nun steht ihm die grösste Veränderung seines jungen Lebens bevor. Mitten in seinem letzten Schuljahr soll er umziehen. Wohin ist ungewiss.
Im März hat Alessandra die Wohnungskündigung erhalten. So wie alle anderen 283 Mietparteien der Vita-Siedlung in Langnau am Albis. Diese Massenkündigung in der Zürcher Agglomeration steht sinnbildlich dafür, in welche Richtung sich die Schweizer Wohnpolitik entwickelt.
Alessandra wohnt schon seit acht Jahren in der Vita-Siedlung. Nicht, weil sie es schön findet, über den ganzen Winter hinweg tote Marienkäfer zusammenzufegen. Sie wohnt hier, weil sie sich nichts Vergleichbares in der Gegend leisten kann. 1430 Franken Miete inklusive Nebenkosten bezahlt Alessandra. Hinzu kommen 120 Franken für einen Garagenparkplatz.
Dass eine Sanierung der Liegenschaft nötig ist, bestreitet niemand. Auch Alessandra nicht. «Aber wieso so? Wieso stellt man gleich alle Menschen aufs Mal auf die Strasse?», fragt sie.
Tatsächlich wäre es anders geplant gewesen. «Sozialverträglich», wie die Gemeinde Langnau am Albis den Bewohnenden versprochen hatte. 2020 hatte die Gemeinde mit der Grundeigentümerin einen städtebaulichen Vertrag abgeschlossen.
Dieser beinhaltet unter anderem, dass sich die Eigentümerin dazu verpflichtet, die Sanierung etappenweise vorzunehmen. Im Gegenzug erklärte sich Langnau am Albis dazu bereit, die Vita-Siedlung zur Verdichtung umzuzonen und vom Ortsbildschutz zu entlassen. So sollten auf demselben Raum 550 Wohnungen entstehen können. Dringend gebrauchter Wohnraum in der Zürcher Agglo.
Doch jetzt hat es die Eigentümerin plötzlich eilig. Eine etappenweise Sanierung ist nicht mehr möglich, wie sie in der Kündigung mitteilt. Im September 2025 müssen alle draussen sein. Ausser sie unterschreiben eine «Erstreckungsvereinbarung», in der sie sich dazu verpflichten, jegliche rechtlichen Schritte gegen das Bauvorhaben zu unterlassen. Dann müssen sie erst Ende September 2026 ausziehen.
«Knebelvertrag», nennt Alessandra diese Vereinbarung. Sie weiss von vielen Bewohnenden, die unterschrieben haben. Aus Angst. Unwissen. Mangelnden Deutsch- und Rechtskenntnissen. Doch Alessandra unterschreibt nicht. Hat bei der Schlichtungsbehörde Einsprache eingereicht. Hofft, dass der Mieterverband und die Gemeinde sich für die Bewohnenden der Vita-Siedlung einsetzen.
Die Besitzerin der Vita-Siedlung ist die Zurich Invest AG, eine Tochtergesellschaft der Zurich Versicherung. Eine Statistik des Bundesamts für Wohnungswesen (BWO) zeigt, dass Mietwohnungen in der Schweiz zunehmend im Besitz sogenannter institutioneller Eigentümer sind. Also: Pensionskassen, Stiftungen, Fonds, Immobiliengesellschaften, Bauunternehmen. Oder eben: Versicherungen.
Im Jahr 2000 vermieteten institutionelle Eigentümer noch 31 Prozent aller Mietwohnungen im Land, während Privatpersonen 57 Prozent ausmachten. 2024 haben die institutionellen Eigentümer die Privaten erstmals überholt.
Aber Private besitzen nicht nur weniger Mietobjekte, sie bauen auch weniger und verkaufen ihre Immobilien zunehmend an Institutionelle. 2024 versuchte die Raiffeisenbank mit einer Umfrage unter privaten Eigentümerinnen und Eigentümern herauszufinden, woran das liegt. Die Antwort: Private seien aufgrund strenger staatlicher Regulierungen und der zunehmenden Komplexität von Bauprojekten überfordert. Deshalb überliessen sie das Bauen und Verdichten lieber jenen mit grösseren finanziellen und personellen Ressourcen. Also: institutionellen Eigentümern.
Die Schweiz hat optimale Bedingungen für Investitionen von institutionellen Eigentümern in Immobilien geschaffen. Einen Grund dafür nennt Zurich-Verischerung-CIO Stephan van Vliet in der Handelszeitung gleich selbst:
Zu diesen erstklassigen Standorten gehört die Schweiz ganz besonders in geopolitisch unsicheren Zeiten, wie der strategische Leiter für Immobilien der Zurich Versicherung ebenfalls in der Handelszeitung zugibt:
Schweizer Immobilien sind attraktive Wertanlagen. Das ist kein Geheimnis. Was aber nur inoffiziell bekannt ist: Schweizer Immobilien können sich für institutionelle mehr lohnen als für private Eigentümer. Den Grundstein dafür hat die Politik mit unserem Mietrecht gelegt, das letztmals 1989 umfassend revidiert wurde.
Unser Mietrecht legt fest, dass die erlaubte Nettorendite – also der Gewinn –, die man durch ein Mietobjekt erzielen darf, von der Höhe des investierten Eigenkapitals abhängt. In der Realität bedeutet das: Eine Zurich Invest AG, die eine Immobilie komplett mit Eigenkapital kaufen kann, darf einen höheren Mietzins verlangen als Frau Müller, die dafür eine Hypothek hätte aufnehmen müssen. Kurzum funktioniert unsere Mietpolitik nach dem Prinzip: Wer hat, der darf sich noch mehr nehmen.
Unter diesen Voraussetzungen ist absehbar, dass institutionelle Eigentümer wie die Zurich Versicherung künftig den Ton in der Schweizer Wohnpolitik angeben werden. Respektive den Preis. Mit dem Ziel: maximaler Gewinn.
Dieser maximale Gewinn lässt sich einerseits effizient mit Neubauten erzielen. Andererseits mit Totalsanierungen und Massenkündigungen. Genau das, was in Langnau am Albis passiert. «Hier wohnen überdurchschnittlich viele Geringverdiener, Familien, Alleinerziehende, Geflüchtete, Ausländerinnen, Pensionierte», zählt Alessandra auf. Die meisten leben schon viele Jahre hier und sind von einem tiefen Mietzins abhängig.
Mit der Massenkündigung kann die Zurich Versicherung nicht nur schneller und günstiger sanieren. Sie bringt auch auf einen Schlag alle jetzigen Mieterinnen und Mieter los. Und kann so nach der Sanierung deutlich höhere Neumieten verlangen, als wenn sie einem Teil von ihnen die Möglichkeit des Wiedereinzugs gewähren würde. Es passiert also genau das, was eine Studie der ETH 2023 aufzeigen konnte: Renovationen verdrängen vulnerable Personengruppen. Und das ist indirekt durch unser Gesetz so gewollt.
Alessandra sagt: «Ich hoffe einfach, dass wir die Kündigung so weit erstrecken können, dass mein Sohn die Schule noch abschliessen kann.» Früher oder später wird sie aber eine neue Wohnung suchen müssen. Da, wo sie sich eine leisten kann. Im Thurgau oder Aargau. Weg von Freunden, Familie und den hilfsbereiten Nachbarn. In Regionen, die sie nicht kennt. Von denen aus sie lange bis zu ihrer Arbeitsstelle auf der Gemeinde Adliswil anreisen müsste.
Pendeln ist für Alessandra eine schlechte Option. Auch das könnte ihr Budget zu stark belasten, je nach Distanz, die sie zurücklegen müsste. Ihr Fazit deshalb: «Ich muss wohl darauf hoffen, dass ich dort einen neuen Job finde, wo ich mir eine neue Wohnung leisten kann.»
Auf Anfrage von watson will sich die Zurich Versicherung nicht zu ihrem Vorgehen bei der Vita-Siedlung äussern. Sie verweist lediglich darauf, dass ein «objektiver Sanierungsbedarf» besteht. Und hält fest:
Alles etwas alt, aber das stört nicht wirklich. So bin ich damals aufgewachsen. Alles da was nötig ist und sonst reicht ein Telefon wenn mal etwas kaputt ist.
Sein Sohn wird erben. Hoffe es bleibt so wie es ist. Wir sind eine grosse Familie hier und nicht alle könnten sich mehr leisten. Von einer Seniorin zur jungen Familie, alles im selben Haus.