Die Welt ist ein bisschen aus den Fugen geraten. An den Schalthebeln der Macht hantieren Greise ohne Kontrolle über ihre Emotionen. Statt damit aufzuhören, blasen wir immer noch mehr CO2 in die Atmosphäre – und die Päckli, die bringt auch nicht mehr die Post, sondern ein Mann in Shorts, der eine Art Glacewagen fährt. Da kann man nur noch den Kopf schütteln – vieles läuft nicht ideal.
Ein wunderbarer Zug des Lebens jedoch ist, dass sich Trost oft an unerwarteter Stelle offenbart. Beispielsweise im Sihl-Center 253 hinter dem brachialen Kornsilo. Dort kann man täglich die Antithese von «vieles läuft nicht ideal» erleben. Dort spielt das verdammte Real Madrid, das Weisse Ballett der Bürokratie-Effizienz. Denn dort befindet sich das Passbüro des Kantons Zürich.
Das Passbüro des Kantons Zürich ist Kunst. Man kann es nicht anders sagen. Denn Kunst entsteht, wenn sich Menschen mit herausragendem Talent richtig ins Geschirr legen. Und das passiert hier. Von der Planung bis zur Ausführung greift jedes Rädchen ins andere. Da waren und sind Profis am Werk. Die Maschinerie ist geölter als ein türkischer Ringer.
Wer den Genuss des wirklich reibungslosen Ablaufs am eigenen Leib erfahren will, der muss sich einfach nur online registrieren und danach sämtliche geforderten Unterlagen mitbringen. Top-Tipp: Die Papiere schön nach Fall geordnet in einem Klarsichtmäppli vorlegen. Man geht ja auch nicht ohne Hut ans Ascot-Pferderennen.
Die Qualität des Büros zeigt sich bereits im Eingangsbereich. Die Signalisation ist eindeutig, aber nicht überladen. Die perfekte Balance aus «an der Hand nehmen» und dem Kunden nicht das Gefühl geben, er sei ein Vollpfosten.
Beim Nümmerlidrucker heisst es unübersehbar, Familien sollen nur ein Ticket nehmen. Weil nur ein Kind auf den Knopf drücken darf, führt das zwar zu einer kleinen Schlegi, die einzige relevante Frage für die Kunden wurde aber beantwortet – und dementsprechend korrekt antizipiert. Es sind genau solche Details, die den Effizienz-Aficionado in Verzückung versetzen.
Wir warten. Aber nur kurz. Wer pünktlich zum Termin kommt, schafft es nicht, alle Bundesräte aufzuzählen, bevor der Bildschirm in die Kabine befiehlt – und mit einem Pfeil signalisiert, wo sich diese befindet. Ein weiteres schönes Detail.
Die Kabine ist gepflegt, aber nicht edel – funktional, aber nicht industriell, der Empfang durch den jungen Mann hinter der Trennscheibe freundlich, aber nicht aufdringlich. Bevor man sich versieht, nimmt das selbstjustierende Gerät bereits Mass. In Sekundenschnelle werden Fingerabdrücke und Fotos genommen. Wer mit seinem Porträt nicht zufrieden ist, darf ein zweites Mal ran. Vom freundlichen Herrn hinter dem Schalter erfahren wir auf Nachfrage einen Fun-Fact: Männer beharren öfter auf der zweite Chance. So auch ich. Auf dem ersten Foto sehe ich aus wie Boris Becker. Leider auch auf dem zweiten.
Nach wenigen Minuten sind sämtliche vier Familienmitglieder abgefertigt. Bezahlt wird am Schalter mit Karte, Twint oder bar, adios, in zehn Tagen kriegen Sie ihre Dokumente, durch die rechte Tür bitte das Büro wieder verlassen. Paradox: Das Traurigste an meiner Passbeschaffungserfahrung ist, dass sie nach wenigen Minuten schon wieder vorbei ist. Die Datenerfassung für das wichtigste Schweizer Dokument dauerte weniger lang als eine Bestellung bei McDonald’s.
Über 200’000 Anträge werden im Passbüro des Kantons Zürich jedes Jahr bearbeitet. Einige davon auch beim Flughafen. Bei 252 Arbeitstagen und einer durchschnittlichen Öffnungszeit von 8,4 Stunden bedeutet das, dass alle 38 Sekunden ein Antrag bearbeitet wird.
Ich habe schon viel Bürokratie erlebt: katastrophale (Grenzübergang Libanon-Syrien), unmotivierte (AAA) und sehr gute (Recyclinghof Hagenholz [R.I.P]). Aber das Passbüro des Kantons Zürich spielt in einer eigenen Liga.
So frustrierend es ist, inkompetente Menschen in falschen Positionen zu erleben, so erhebend ist es, perfekt eingesetztem Talent beizuwohnen. Hier beherrschen viele Beamte, von der Prozessdesignperson bis hin zum Schaltermenschen, ihre Teilbereiche aus dem Effeff. Ich fühle mich wie ein Stück Draht, innerhalb weniger Sekunden präzis zu einer Büroklammer verarbeitet. Das ist nicht negativ – im Gegenteil. Die Erfahrung von nahezu maschineller bürokratischer Effizienz mit einem Schuss Menschlichkeit hat etwas Spirituelles. Und es zeigt, was möglich wäre – wozu wir fähig wären. Mich durchfährt ein Schaudern – ASMR. Der Glaube an die Menschheit ist wiederhergestellt.
Ich hoffe inständig, dass die dort involvierten Menschen jeden Abend mit Stolz erfüllter Brust nach Hause gehen. Sie haben es so verdient. Es braucht keinen Tennisplatz oder ein Schachbrett, um bewundernswerte Perfektion zu erleben – es gibt sie auch im Alltag. Beispielsweise im Passbüro des Kantons Zürich. Und was dort abgeht, ist einfach nur eins: Bürokratie-Porn.
Jaja, ich bin mir meiner Verantwortung bewusst. Ich muss es euch zeigen. Call me Boris.
Und wer jetzt findet, dass ich ein verdammter Schleimer bin – ich kann auch anders:
Meine ID in Italien: 7 Monate, 11 Tage.
Sagt doch schon alles.
durch die Realität widerlegt!