2010. Die Deutschen sind da. Seit vor drei Jahren die letzten Übergangsrestriktionen für die alten EU-Staaten gefallen sind, wandern sie zu Zehntausenden ein. Im Zwölferteam der Krankenschwester Regula Padruzzi* (42) im Spital Bülach arbeiten nun vier Deutsche und eine Österreicherin, die meisten blutjung. Regula gehört nun zu den Dienstältesten. Wenn Michi in drei Jahren pensioniert wird, erhofft sie sich den Job als stellvertretende Stationsleiterin in der onkologischen Abteilung. Doch Antje, vor zwei Jahren aus Hannover gekommen, ist besser qualifiziert. Sie ist kinderlos und arbeitete immer hundert Prozent, während Regula ihr Pensum erst vor einem Jahr wieder auf 80 Prozent hochgeschraubt hat. Aber trotzdem, denkt Regula. Ich bin schon länger hier, ich bin fünf Jahre älter als Antje. Das muss doch was zählen.
Seit zwei Monaten ziehen die deutschen Berater auf dem Weg in die Unternehmensleitung ihre Rollkoffer durch die Betriebsmensa, würden aber nie hier essen. «Was hecken die wohl aus?», fragt Mario Padruzzi (44), der die Abteilung für Kläranlagen mit acht Mann leitet. Rolf, Marios alter Kumpel und Stellvertreter, zuckt mit den Schultern. «Kosten senken. Was sonst?» «Vielleicht schlagen sie vor, am Weihnachtsfest Karpfen statt gerollte Schinken zu servieren», frotzelt Mario, «bei all den Mitarbeitern aus dem grossen Kanton.» Vor einem Jahr hat ein junger Deutscher Heinz ersetzt, der in Pension ging. Er koste halb so viel wie Heinz, munkelt man.
Als 2007 die Übergangsrestriktionen für die alten EU-Staaten fallen, wird die Schweiz zum kleinen Amerika im Herzen von Europa: Ein Land, in dem man sein Glück suchen kann. Ab 2007 wandern fast jedes Jahr 80'000 Menschen in die Schweiz ein, der Löwenanteil sind EU-Bürger, davon wiederum stellen die Deutschen die Mehrheit. Sie lassen sich vor allem in Basel und Zürich, aber auch in Tourismusgebieten nieder.
Aber etwas unterscheidet sie von den Gastarbeitern der 60er und 70er und den tamilischen und jugoslawischen Kriegsflüchtlingen der 80er und 90er: Sie sind gut ausgebildet. Sie putzen keine Strassen und verkaufen keine Kebabs, sondern konkurrenzieren den Mittelstand in seinen angestemmten Berufen: Ärzte, Professoren, Buschauffeure, Krankenschwestern, Sales Manager. Viele von ihnen kommen in dem Glauben, die Schweiz sei nichts anderes als ein südliches Bundesland.
Der Kulturschock ist vorprogrammiert. Und antideutsche Reflexe ebenfalls. Ein besorgter Leser schreibt dem «Tages-Anzeiger»: «Ich persönlich fürchte diese deutschen Männer auch noch, weil sie uns so viele der attraktivsten Schweizer Frauen wegnehmen.» Katrin Wilde, die erste deutsche Radiomoderatorin in der Schweiz, kündigt nach wenigen Monaten verstört ihren Job bei Radio Energy, nachdem sie dutzende Hass-Mails bekommen und man ihr Auto demoliert hat.
Meist spielt sich der Kulturschock subtiler ab: Die Deutschen müssen sich an die flacheren Hierarchien und die harmonischeren Betriebskulturen gewöhnen. Regula Lüthi, Pflegedirektorin der Psychiatrischen Uniklinik Basel, erzählt: «Man muss deutschen Ärzten erklären, dass Pflegefachpersonen ihre Ausbildung auf der Tertiärstufe mit einem Diplom abschliessen und damit kein Hilfsberuf sind.»
Zwar nimmt der wachsende Arbeitsmarkt die Einwanderer auf. Die Arbeitsmarktstatistiken aus den Jahren nach 2007 spiegeln keinen harten Konkurrenzkampf mit Lohneinbussen und Arbeitslosigkeit wider. Doch die Makrozahlen erzählen vermutlich nicht die ganze Geschichte. Als der Präsident des Zürcher Studierendenrats 2007 die «Germanisierung» der Uni Zürich anprangert, heulen seine Kollegen auf. Doch hinter vorgehaltener Hand bestätigen Forscher, dass deutsche Professoren gerne ihre eigenen Leute nachholen. Auch CVP-Nationalrätin Kathy Riklin die bis 2015 im Rat der Universität sass, sagt: «Manche Institute waren tatsächlich von Deutschen dominiert.»
Prekär wird es am unteren Qualifikationsende des Arbeitsmarktes: Im Bau- und Gastgewerbe. Im Rahmen der flankierenden Massnahmen werden in gefährdeten Branchen regelmässig Lohnkontrollen durchgeführt. Sieht man die jährlichen Berichte der Kontrolleure durch, zeigt sich, dass Lohndumping kein Randphänomen ist. 2007 verstossen gemäss dem Bericht acht Prozent der Betriebe (sowohl Schweizer wie auch ausländische Betriebe, die in der Schweiz Aufträge ausführen) gegen Mindestlöhne, 2013 zehn Prozent. In krassen Fällen entdecken Kontrolleure im heiklen Baunebengewerbe Arbeiter, die für 8 oder 9 Euro in der Stunde arbeiten, ein Drittel der GAV-Vorgaben, in vielen Fällen liegen die Löhne 10 bis 20 Prozent unter dem Minimum. Die Strafen sind jedoch oft milde, und die wenigen Kontrolleure entdecken längst nicht alle Verstösse.
Stefan Hirt kontrolliert ab 2005 regelmässig auf Baustellen. Er befragt Arbeiter nach ihren Löhnen und fordert von ihren Chefs Lohnauszüge. «Aber es gibt viele Möglichkeiten, das Gesetz zu umgehen», sagt Hirt und erzählt von Bauarbeitern, die einen Teil des ausbezahlten Lohns Bar dem Chef zurückgeben mussten. «Man kann bei der Zeiterfassung falsche Angaben machen, man kann damit die Reisekosten und Spesen umgehen.» Die Firmen werden zwar mit einigen tausend Franken gebüsst oder gesperrt. Dies sei aber einfach zu umgehen, erklärt Hirt. «Wenn man das nächste Mal für einen Auftrag in die Schweiz kommt, meldet man sich mit einem leicht veränderten Namen an, dann wird man im Register schon nicht mehr erkannt.» In einzelnen Branchen des Baugewerbes, sagt Hirt, habe die Missbrauchsquote bei Kontrollen zwischen 40 und 60 Prozent betragen.
Die Partei mit dem besten Riecher nimmt das Thema auf. Im Juli 2011 lanciert die SVP die Masseneinwanderungs-Initiative. Sie will die Personenfreizügigkeit mit Brüssel neu verhandeln: Ein Inländervorrang und Kontingente sollen die Einwanderung bremsen. Der Bundesrat reagiert. 2012 veröffentlicht er als Antwort auf parlamentarische Anfragen einen Bericht über die Auswirkungen des freien Personenverkehrs. Er stellt fest, dass die Zuwanderung den Druck auf Verkehr und Wohnungsmarkt verstärkt. Doch diese Probleme lassen sich nicht auf die Schnelle beheben.
Im April 2012 aktiviert der Bundesrat erstmals die Schutzklausel, wodurch er im kommenden Jahr ein paar tausend Aufenthaltsbewilligungen weniger erteilen darf. Die Migrationszahlen bleiben aber hoch. Im Herbst 2013 beginnt der Abstimmungskampf zur MEI. Es ist die siebte Abstimmung über die Bilateralen, jedes Mal haben sich die Schweizer dafür ausgesprochen. Vielleicht spüren viele Politiker deshalb nicht, was sich im Land zusammenbraut. Der Herbst 1992 beginnt sich zu wiederholen.
Die SVP macht Wahlkampf auf Hochtouren. Ende Dezember flattert eine Parteizeitung in alle Haushalte. Auf Podien macht sie Stimmung. Kathy Riklin erinnert sich, wie ihr Leute an Veranstaltungen von Bekannten erzählen, die durch Ausländer ersetzt worden sind. Ein Wähler, Inhaber eines Schuhgeschäfts, schreibt ihr, er werde ja stimmen, weil seine Tochter entlassen wurde und eine junge Deutsche ihre Stelle gekriegt habe. «Das verbreitete sich wie Gift», erzählt Riklin.
Der freisinnige Nationalrat Walter Müller, weiss Gott keiner vom linken Flügel, erinnert sich an ein Podium der St.Galler SVP: «Dem Publikum wurde vorher so eingeheizt, dass eine sachliche Diskussion nicht möglich war. Man wollte gar nicht zur Kenntnis nehmen, dass einer Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit beide Partner zustimmen müssten.
Im Herbst 2013 startet die Economiesuisse ihre Gegenkampagne. Sie bepflastert die Schweiz mit düsteren Plakaten von einem Apfelbaum, der gefällt wird. «Bilaterale abholzen?», heisst der Slogan. Denn die Economiesuisse, die bisher bei den Abstimmungen zu den Bilateralen federführend war, hat sich selbst ausser Gefecht gesetzt.
Als sie im März die Abstimmung zur Abzocker-Initiative des Zahnpasta-Produzenten Thomas Minder verliert, bricht das Chaos aus. Die aggressiv-populistische Kampagnenführung kommt schlecht an, ein von Starregisseur Michael Steiner gedrehter Werbefilm, der die Schweizer Apokalypse im Fall einer Annahme zeigt, liegt bis heute unveröffentlicht in einem Bankschliessfach der Zürcher Kantonalbank. Die Economiesuisse hat in der Bevölkerung etwa einen so guten Ruf wie die Banken in diesen Jahren der Millionenboni und Bankenkrisen: Sie gilt als arrogant und unfähig.
Im Juni nehmen Geschäftsführer Pascal Gentinetta und Präsident Rudolf Wehrli den Hut. Der Verband ist führungslos, die Stimmung im Keller. «Wir müssen weniger reden und mehr zuhören», sagt Economiesuisse-Vizepräsident Hans Hess im Juni der Handelszeitung. Im Dezember, mitten in der Abstimmungskampagne gegen die MEI, tritt auch noch die Kommunikationschefin Ursula Fraefel zurück. Die Economiesuisse ist so mit sich selbst beschäftigt, dass sie im Abstimmungskampf desorientiert wirkt.
Auch der Bundesrat glänzt – ähnlich wie 1992 vor dem EWR – nicht. Johann Schneider Ammanns Glaubwürdigkeit ist mit dem eben aufgeflogenen Steuerkonstrukt seiner Firma im Steuerparadies Jersey angekratzt. Didier Burkhalter verabschiedet sich zum Staatsbesuch nach Japan und dann zu den Olympischen Spielen nach Sotschi. «Das hätte auch Ueli Maurer machen können», ärgert sich CVP-Nationalrätin Kathy Riklin noch heute.
Einer ist wieder im Zwiespalt. Rudolf Strahm ist inzwischen 70 Jahre alt und längst nicht mehr im Nationalrat, aber als Vertrauter von Simonetta Sommaruga noch immer ein politisches Schwergewicht. In seinen Kolumnen im «Tages-Anzeiger» schreibt er über die Nebeneffekte er Personenfreizügigkeit. Er warnt vor Unqualifizierten aus Süd- und Osteuropa, die ausgerechnet in SVP-nahe Arbeitsmärkte wie die Gastronomie oder den Bau wandern. «Es ist eine Ironie der Geschichte», schreibt er im Dezember 2013, «dass Europas Linke mit ihrem Multikulti-Ideal die soziale Sprengkraft dieses Arbeitsmigrationsmodells lange Zeit verkannt hatte.»
Strahm lehnt die MEI ab, sieht aber zugleich, wie der Bundesrat die Nebeneffekte des freien Personenverkehrs weder mit Mindestlohn noch einem Wohnbauprogramm dämpfen will. «Das Volk fühlte sich allein gelassen», sagt Strahm heute, «und der Bundesrat tat nichts. Selbst die Gewerkschaften haben erst hinterher gemerkt, dass ihre Mitglieder mehrheitlich für die MEI stimmten.»
Strahms Vertraute Sommaruga ist die einzige Bundesrätin, die sich in der Schlussphase der Abstimmung ins Zeug legt. Er erinnert sich an ein Podium in Thun. «Simonetta kam flach heraus», erzählt Strahm, «dabei waren das keine Hardcore-SVP-ler, sondern Mittelstand. Da merkte auch Simonetta selbst, dass die Stimmung kippt.» Zum Schluss seiner Kolumne im Dezember schreibt Rudolf Strahm: «Der Bundesrat brauchte Druck von Seiten des Volkes.» Heute überlegt er, dann schüttelt er den Kopf. «Ich war gegen die Initiative, weil sie von der SVP kam. Aber ich war lange vor der Abstimmung der Meinung, dass der Bundesrat einen Denkzettel nötig hätte.»
Seit einigen Jahren fahren die Trams fast immer zu spät. die Durchsage «Wegen Verkehrsüberlastung kommt es im Schienennetz zu Verspätungen» gehört zum Soundtrack eines Ausflugs nach Zürich. Regula Padruzzi (46) starrt aus dem Fenster. Sie war Frustshoppen. Sie ist nicht Stationsleiterin geworden. Natürlich hat Antje, ihre jüngere deutsche Kollegin, die Stelle gekriegt. «Regula, mein Gott, bist du das?»Regula dreht den Kopf und blickt in das Gesicht von Petra, ihrer alten Freundin, mit der sie vor fast 20 Jahren nach Zürich gezogen ist. Seit Jahren haben sie sich nicht mehr gesehen.
Petra sieht aus wie viele dieser Stadtzürcherinnen, sie trägt eine rote Wollmütze und Lederjacke. «Ganz schön voll hier», meint Regula. Petra grinst. «Ja, so ist es halt in der Stadt.»«Manchmal fragt man sich schon, was genau das jetzt uns bringt», rutscht es Regula raus. «Was meinst du?» «All die Leute, die kommen», erwidert Regula. Petras Blick verengt sich. «Es muss uns ja nicht immer was bringen, oder?», fragt sie spitz. «Das ist ihr Recht, wenn die hier ihr Glück versuchen.» Regula will etwas entgegnen, aber Petra zeigt durchs Tramfenster nach draussen. «Ach, jetzt muss ich eh raus, ich wohn gleich hier. Bis wieder einmal!» Regula sieht Petra nach, wie sie auf ihre Wohnung zu läuft. Du hast gut reden mit deiner Stadtwohnung, sagt sie sich und denkt an die vollgestopfte, nach Schweiss riechende S-Bahn, die sie nach Dietlikon bringen wird.
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Zuhause in Dietlikon läuft die Abstimmungsarena. SVP-Fraktionschef Adrian Amstutz streitet sich mit Bundesrätin Sommaruga. Mario lacht. «Du, der Amstutz redet plötzlich wie ein Linker. Wirtschaftswachstum ist nicht alles, alles wird verbaut.» «Aber es wird ja wirklich alles verbaut», sagt Regula. «Und die Linken reden wie Rechte. Sie reden nur von der Wirtschaft», fährt Mario fort. Regula nickt. «Was stimmst du?» Sie hat sich entschieden.
Mario Padruzzi trinkt zuhause am Küchentisch in Dietlikon und grübelt. Vor ihm liegt der graue Stimmzettel zur Masseneinwanderungs-Initiative. Heute will er sich entscheiden. Gestern fand er, man sollte doch nicht das Wirtschaftswachstum wegen voller Züge gefährden. Aber heute morgen hörte er in der Kantine, dass neuerdings nicht nur Deutsche, sondern auch polnische Maschinenbauer eingestellt werden. Ausgebildete, erfahrene Maschinenbauer aus Ungarn bewerben sich für unbezahlte Praktika. Mario ist jetzt 48. Er kommt noch klar mit Software-Updates, er ist noch offen für Umstrukturierung.
Doch er spürt, wie sich alles um ihn schneller dreht. Manchmal, beim Feierabendbier in der neuen Kneipe neben seiner Bude, fragt er sich, ob es sein Vater nicht einfacher hatte, in der alten Schweiz, in der es nur Feldschlösschen- und Hürlimann-Bier gab, die PTT, die öffentlich-rechtlichen TV-Kanäle und keine Handys, die dauernd summen. «Also gut», denkt Mario, «ich setze ein Zeichen.»
* Die Familiengeschichte der Padruzzis ist ein fiktionales, erzählerisches Element.
Ich war gegen die MEI, aber ich habe das Gefühl, dass sich verschiedene Dinge, wie z. B. der härtere Kokurrenzkampf am Arbeitsmarkt oder der Verkommen der Politik zum reinen Verwalten von wirtschaftlichen Interessen (natürlich der Einflussreichen), in unserer Gesellschaft gefährlich zu einem giftigen Gesamtbild vermischen.
Und das betrifft Europa ebenso wie die Schweiz.
Das vermisse ich in der ganzen Diskussion, immer stehen die Deutschen im Fokus dabei gibt es noch 28 EU Staaten die voll sind mit Netten Menschen