Die Macht der harmlosen Bilder: Das Video von Raif Badawis Prügelstrafe wirft viele Fragen auf
In Deutschland ist vor Ostern das Buch «1000 Peitschenhiebe» über den saudischen Blogger Raif Badawi erschienen, der seit über zwei Jahren im Gefängnis sitzt, weil er angeblich den Islam beleidigt und die öffentliche Ruhe im Königreich gestört hat. Der Fall findet weltweite Beachtung, seit die saudischen Behörden dem Verurteilten Anfang Jahr öffentlich 50 Stockhiebe versetzten – die erste Tranche von insgesamt 1000, die ihm zusätzlich zur Haftstrafe auferlegt worden waren. Seither sind sämtliche Prügeltermine aus medizinischen Gründen verschoben worden. Im Internet kursiert ein Video der Auspeitschung:
Er habe die 50 Peitschenhiebe «auf wundersame Weise überlebt», wird Badawi im Vorwort von «1000 Peitschenhiebe» zitiert, das der «Spiegel» exklusiv vorab publizierte. Wer sich das Video ansieht, gerät über diese Aussage des 31-Jährigen ins Stutzen. So auch «Spiegel»-Leserin Petra Loda:
Erniedrigend und entgegen jeglichem Rechtsempfinden eines zivilisierten Menschen war die öffentliche Prügelstrafe auf jeden Fall. Aber lebensgefährlich? Auch dass seine Wunden eine Woche später angeblich nicht genügend verheilt waren, womit die Behörden die Aussetzung der Prügel erklärten, erscheint schwer nachvollziehbar.
«Unangenehm, aber zum Aushalten»
Die saudische Justiz ist eine Blackbox, intransparent und komplett unempfänglich für unabhängige Inspektionen. Organisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International gehen aber davon aus, dass Prügelstrafen in dem Königreich gang und gäbe sind. Zwei heimlich gefilmte Videos legen zudem nah, dass vor Badawi schon andere Verurteilte «leichte» Stockhiebe verabreicht bekamen.
Robert Thomas hat eine solche «leichte Prügelstrafe» am eigenen Leib erfahren. Der Australier war 2002 zu 16 Monaten Gefängnis und 300 Peitschenhieben verurteilt worden, weil seine Frau angeblich aus dem Krankenhaus gestohlen hatte, in dem die beiden arbeiteten, und er sie nicht daran gehindert hatte. «Unangenehm, aber zum Aushalten» und «nicht so schlimm, wie man es sich vorstellt», beschrieb er damals die ersten 50 Hiebe gegenüber der australischen Tageszeitung «The Age».
«Ich blutete am Rücken»
Lässt sich daraus schliessen, Prügelstrafen in Saudiarabien seien eine symbolische Angelegenheit? Amnesty International hat über die Jahre zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen die Verurteilten offenbar schwere Verletzungen davontrugen. Einer davon ist der Filipino Donato Lama. Weil er angeblich an einem heimlich durchgeführten katholischen Gottesdienst in Riad teilgenommen hatte, wurde er 1997 zu 18 Monaten Gefängnis und 70 Peitschenhieben verurteilt. Zwei Jahre später beschrieb er seine Strafe so:
In dieselbe Kategorie gehört der Fall des Ägypters Muhammad Ali al-Sayyid, der 1990 wegen Diebstahl zu sieben Jahren Gefängnis und 4000 Peitschenhieben verurteilt wurde. Laut Amnesty International bekam er alle zwei Wochen 50 Schläge verabreicht, die jedesmal blaue Flecken oder Blutungen auf seinem Hinterteil verursachten. In der Folge konnte er für drei Tage weder sitzen noch schlafen.
Je mehr Aufmerksamkeit, desto milder die Strafe?
Einschränkend zu den beiden genannten Fällen ist zu sagen, dass sie relativ lange her sind und nicht auf Video dokumentiert sind. Tatsächlich sind überhaupt keine Videos von «echten» Auspeitschungen bekannt. Gehören diese der Vergangenheit an? Oder unterbinden die saudischen Behörden in diesen Fällen Amatuervideos konsequent? Streuen sie gar aktiv «harmlose» Videos, um ihr Gesicht zu wahren? Fragen über Fragen an ein Regime, das gegenüber niemandem ausser Gott Rechenschaft ablegt.
Ein Aspekt bei den zwei oben erwähnten Fällen sticht allerdings heraus: Bei den Opfern handelt es sich um Gastarbeiter aus Drittweltländern, die in Saudiarabien über noch weniger Rechte verfügen als normale Bürger. Der Australier Robert Thomas hingegen, der mit «leichten» Prügeln davonkam, stammt aus einer westlichen Industrienation. Kann es sein, dass die saudischen Behörden zweierlei Recht anwenden, jenachdem, wie wichtig ihnen die Beziehungen zu einem Land sind?
«In der Regel ist es so», sagt der US-Kriminologe Matthew Pate gegenüber watson. Zusammen mit Laurie Gould brachte er 2012 «Corporal Punishment Around the World» heraus, das Standardwerk zum Thema Körperstrafen. Wie aber passt Raif Badawi – kein Ausländer, sondern saudischer Staatsbürger – in dieses Schema? Neben der Nationalität könnte ein anderer Faktor ausschlaggebend sein: «Es ist gut möglich, dass die Behörden bei Badawi ‹schonen›, weil sein Fall von Medien und Menschenrechtsorganisationen viel Aufmerksamkeit erhält», so Pate.
Amnesty International verwendet das Video nicht
Anders gesagt: Wird ein Ausländer aus dem Westen zu Peitschenhieben verurteilt, ist ihm ein grosses Medienecho gewiss. Bei Angehörigen anderer Staaten müssen Menschenrechtsorganisationen den nötigen Druck aufbauen, um bei den saudischen Behörden denselben Effekt zu erzielen. So wie Amnesty International mit seiner internationalen Kampagne zugunsten Raif Badawis.
1000 Peitschenhiebe in 20 W für #Saudi Blogger Raif Badawi. Pls sign petition + RT #FreeRaif http://t.co/LBgu3HBuw8 pic.twitter.com/V9nQ8xcAMF
— Amnesty Schweiz (@Amnesty_Schweiz) 14. Januar 2015
Das schockierende Bild in dem Tweet zeigt nicht den Rücken Badwis, wie Amnesty International zugibt, entspreche aber der «Realität saudischer Prügelstrafen»: «Da Raif Badawi weiterhin 950 Stockhiebe drohen und die entsprechende Strafe nicht definitiv aufgehoben wurde, ist diese Befürchtung auch für ihn weiterhin sehr real», so Reto Rufer von Amnesty International Schweiz gegenüber watson.
Das Video seiner Prügelstrafe hält Amnesty International zwar für authentisch, ist der Organisation aber offenbar nicht ganz geheuer: «Wir haben es nie in einer Kampagne für Raif Badawi verwendet», so Rufer. «Wir wollten die Diskussion bewusst nicht auf ein Nebengleis leiten, inwiefern das Video eine ‹echte› Auspeitschung zeigt, sondern beim Kern der Kampagne bleiben: Raif Badawi befindet sich allein aufgrund seiner friedlichen Meinungsäusserung in Haft und muss umgehend freigelassen werden.»
Statt auf das Video verweist Amnesty International auf einen anonymen Augenzeugenbericht der Prügelstrafe: «Badawi schwieg, aber man konnte es seinem Gesicht und seiner Körpersprache ansehen, dass er Schmerzen hatte», heisst es dort.
Die Weltöffentlichkeit muss den Druck aufrecherhalten
Wie schmerzvoll die Prügelstrafe Raif Badawis wirklich war, ob sie irgendwann wieder aufgenommen wird und wenn ja in welcher Form, lässt sich nicht abschliessend beantworten. Dafür ist die saudische Justiz zu undurchsichtig und zu willkürlich. Dass er die 50 Hiebe auf «wundersame Weise» überlebt haben will, mag übertrieben klingen. Möglicherweise plagt ihn die Angst, dass die Weltöffentlichkeit bald das Interesse an seinem Fall verliert und damit auch die relative Milde zu Ende geht.
Für Kriminologin Laurie Gould klingen Badawis Todesängste hingegen nicht a priori unglaubwürdig: «Ich kann nicht für ihn sprechen und weiss auch nicht, wie es ihm im Gefängnis bislang ergangen ist. Aber die Vorstellung, monatelang einmal wöchentlich 50 Peitschenhiebe zu erhalten, muss schwer auf ihm wiegen.»