
Sag das doch deinen Freunden!
Die Strassen sind vereist, die Wiesen leicht angezuckert, es weht ein unangenehm kühler Wind. Halim* wischt das bisschen Schnee, das es auf den Vorplatz der Jugendherberge St.Gallen geweht hat, die Treppe hinunter. Er trägt Adiletten ohne Socken, eine Trainerhose und eine dicke Jacke. Frieren tut er nicht. Dort, wo er herkommt, sind die Winter hart.
Afghanistan heisst sein Heimatland. Die Schweiz ist nicht etwa sein Ferienziel, sondern, zumindest vorübergehend, seine neue Bleibe. Seit November hausen in der Jugendherberge keine Touristen – Asylsuchende sind hier jetzt untergebracht. Die Unterkunft, die für 60 Bewohner konzipiert ist, platzt aus allen Nähten. «Es ist eng», sagt Halim. «Doch es ist das Beste seit langem.»
Drinnen im temporären Asylzentrum sitzt Urs Weber, Leiter der Asylabteilung. Er schaut die Treppe hoch und sagt: «Ursprünglich hatten wir geplant, hier in der Jugendherberge 85 Asylsuchende einzuquartieren, nun sind es über 100.» In jeder Ecke liege eine Matratze, der Platzmangel mache das Zusammenleben nicht einfacher.
In den restlichen Asylzentren des Kantons präsentiert sich ein fast identisches Bild. Die Auslastung beträgt aktuell 135 Prozent, beim Migrationsamt ist viel Kreativität gefragt. «Jeden Tag um 16 Uhr bekommen wir die Zahl der Neuankommenden, für die wir bis am nächsten Morgen ein Dach über dem Kopf finden müssen. Weil es überall brechend voll ist, eine nicht ganz einfache Aufgabe», sagt Weber. Herumtelefonieren, herausfinden, wo es noch ein Räumchen gibt, in das allenfalls noch ein paar Matratzen passen, das ist schon seit längerer Zeit die Hauptarbeit des Migrationsamtes.
So rasch wird sich das nicht ändern. «Das Thema wird uns noch lange beschäftigen», prophezeit Weber. Obwohl momentan die Balkan- und die Mittelmeer-Route «geschlossen» seien, gehe der Flüchtlingsstrom in die Schweiz nicht zurück. «Der Druck aus Deutschland nimmt zu, dort wird die Lage für die Flüchtlinge immer ungemütlicher; nicht zuletzt wegen der Vorkommnisse an Silvester in Köln.»
Halim hat die Treppe vom Schnee befreit. Lange kann er dieses «Ämtli» nicht mehr übernehmen. Es steht bereits fest – er muss zurück nach Deutschland. Das Schengen-Abkommen will das so. «Ich bin nervös, momentan ist Deutschland kein guter Ort», sagt Halim. Es gebe jetzt dort sicher mehr Vorurteile gegenüber den Flüchtlingen wegen der Übergriffe als Mitte November. Damals kam er von Deutschland, wo sie ihm von allen Fingern Abdrücke genommen hätten, in die Schweiz.
Seither wartet er, wie sie es alle tun in den Asylzentren: Warten und die Zeit totschlagen. Seine Tage in St.Gallen beginnen um 6 Uhr. Gleich nach dem Aufstehen beginnt er mit seiner Arbeit in der Küche. Er hilft, das Frühstück zuzubereiten, wäscht ab. Solche «Ämtli» sind eine willkommene Abwechslung im monotonen Alltag der Flüchtlinge, und sie können dabei ein bisschen etwas verdienen. Für Jobs wie WC putzen, Böden reinigen, im Garten helfen oder in der Küche, gibts zusätzliches Taschengeld. Das reguläre Taschengeld pro Tag beträgt 3 Franken, dazu kommt ein Franken für Kleidung und 60 Rappen für Hygieneartikel. Arztbesuche sind inbegriffen.
Nach seiner Aufgabe in der Küche, die er gegen 9.30 Uhr beendet hat, sieht Halims Tag so aus:
«Frei» bedeutet vor allem Langeweile. Gegen diese kämpfen die meisten Flüchtlinge mit dem Handy an. Sie stehen in den Gängen, bei den Steckdosen und tippen in ihre Geräte. «Das Smartphone ist das Allerwichtigste, die einzige Möglichkeit, mit der Familie Kontakt zu haben», sagt Halim. Die einzige Möglichkeit sich zu vergewissern, ob sie noch leben.
Wenn er spricht, zieht er stets seine Kapuze über den Kopf. Er redet leise, flüstert fast, seine braunen Knopfaugen bewegen sich rasch und nervös von einer auf die andere Seite. Das Warten sei nervtötend, er schlafe viel, lerne Deutsch, ab und zu gehe er joggen.
Weil das Gesetz den Asylsuchenden Arbeit während den ersten drei Monaten verbietet, sind sie alle verdammt zum Warten.
Christina Meile, die operative Leiterin des temporären Asylzentrums St.Gallen, sagt, sie und ihr Team versuchten alles, die Asylsuchenden zu beschäftigen, der Spielraum sei aber begrenzt: «Nebst dem Frühstück sind die Schullektionen für Kinder der einzige Fixpunkt am Morgen.» Daneben müssen sie sich selber organisieren. Die Afghanen seien ziemlich aktiv, würden viel Sport treiben. «Grundsätzlich können alle gehen und kommen, wann sie wollen, wir sind kein Gefängnis.» Bis um Mitternacht müssen alle Flüchtlinge in der Unterkunft sein. Es gibt jeden Tag eine Anwesenheitskontrolle.
Elf Personen kümmern sich um die Bewohner, ein Teil des Personals konnte von der Jugendherberge übernommen werden. Mit eingerechnet sind Sicherheitsleute, die während der Nacht zum Rechten sehen. Dazu kommt ein Polizist, der mindestens einmal pro Tag im Asylzentrum vorbeischaut. Die meisten Asylsuchenden kommen aus Afghanistan, Syrien, Irak und Sri Lanka sowie Somalia.
Unter den Gruppierungen kommt es immer wieder zu Spannungen. «Meistens, wenn sich die Kinder streiten und dann die Eltern einmischen», weiss Meile. Dann gelte es zu vermitteln, die Kommunikationsprobleme zu lösen.
Auch bringen die Betreuer den Asylsuchenden die Schweiz näher mit einfachen Erklärungen zu unserem Land. Wie der Umgang mit Frauen bei uns gelebt wird, lehren Meile und ihr Team nicht erst seit den Vorfällen in Köln. Für einige Männer sei es am Anfang schon gewöhnungsbedürftig, dass in der Jugendherberge eine Frau das Sagen habe. Die meisten haben sich aber laut Meile rasch daran gewöhnt. Im Normalfall würden sie sich an die Regeln halten.
Bisher gab es unter der Führung von Meile keine grösseren Zwischenfälle, eine Grippewelle, die fast alle Asylsuchenden überrollte, war das gravierendste. Allerdings nehmen die Spannungen momentan zu. «So viele Menschen auf so engem Raum, das ist schwierig, wir können am Abend nach Hause, die sind 24 Stunden hier», sagt Meile.
Während die Männer in ihre Smartphones starren, hängen die Frauen in den Gängen Wäsche an Ständer. Kinder rennen umher, verbringen Zeit im Spielzimmer. Mehrere schwangere Frauen sitzen im Aufenhaltsraum. Tee und Zucker, die immer zur Verfügung stehen, werden dankbar konsumiert. Viele begrüssen sich mit «Hoi», ein 14-jähriges Mädchen stellt sich in fast akzentfreiem Deutsch mit «Hallo, ich bin Rabia* und komme aus dem Irak» vor.
«Wer mehrere Sprachen spricht, ist überall im Vorteil», sagt Zarif* und klopft dem Mädchen auf die Schulter. Zarif ist Syrer, in die Schweiz flüchtete er aber aus Russland.
Zarif ist fast schon edel angezogen, perfekt frisiert. Er trägt einen gepflegten Bart und er ist einer der wenigen, die fliessend Englisch sprechen. Geht es um gesundheitliche Probleme oder auch Streitigkeiten, vermittelt er, begleitet andere Flüchtlinge zum Arzt oder ins Spital. Er ist einer der «Übersetzer» für die Syrer. Meile ist froh um Vermittler wie Zarif.
Dankbar über die Übersetzer-Aufgabe ist auch Zarif selber. Es macht seine langen Tage in der Schweiz etwas kürzer. Zarifs Alltag sieht so aus:
Er möge es nicht rumzusitzen, nichts zu tun, einfach zu warten auf den Asylentscheid. «Ich will arbeiten», sagt Zarif. Der Schweiz etwas zurückgeben, sie habe schon so viel gemacht für ihn. Natürlich sei es eng und natürlich sei es mit acht Personen in einem Raum nicht immer einfach. In Zivilschutzanlagen ohne Fenster sei es jedoch noch viel schwieriger. Und: Er sei schlicht und einfach dankbar, hier sein zu dürfen. Wie es jetzt in Syrien wäre, das müsse er ja nicht erklären. Zarif erwähnt weiter das Essen, das ihm hier schmecke. Für Urs Weber ist gutes Essen einer der Schlüssel, «damit nicht der Lagerkoller ausbricht.»
Wie für Halim ist auch für Zarif das iPhone unverzichtbar. «Ohne das Handy wüsste ich nicht, wie es meiner Familie, meinen Freunden in Syrien geht.» Seit sechs Jahren hat er sie alle nicht mehr gesehen.
Zarif schaut ins neblige Nichts, es flockt wieder leicht. Im Gegensatz zu Halim ist über seine Zukunft noch nicht entschieden worden. Er darf noch hoffen – und muss weiter warten.
*Alle Namen geändert. Wegen der Wahrung der Persönlichkeitsrechte hat die Redaktion sämtliche Bilder gepixelt.
Allerdings ist ein Mobiltelefon ja heutzutage wirklich kein Luxusgut mehr, daher verstehe ich die immer wieder aufflammende Aufregung betr. Asylbewerber und Smartphones nicht.
Was ich allerdings auch nicht verstehe, dass viele Smartphones die Reise unversehrt überstehen, während die Papiere angeblich unauffindbar und noch nicht mal mit dem Smartphone fotografiert wurden - etwas vom ersten was ich tun würde, wenn ich flüchten müsste...
Polen, Ungarn etc hätten noch viel Kapazität und daher Platz für Neuankommende.
Diesen Menschen hilft es nicht, hier zu sein. Uns hilft es ebenfalls nicht, dass diese Menschen hier sind - die politische Landschaft verändert sich, und sie wird sich weiter verändern (und stärker radikalisieren), weil der Flüchtlingsstrom nicht abbrechen wird.
Wir brauchen vor-Ort-Lösungen, um diesen Menschen eine sinnstiftende Zukunft zu ermöglichen. Allen, nicht wenigen.