Yuval Noah Harari zählt zu den führenden Intellektuellen der Gegenwart. Er ist der Autor von Bestsellern wie «Eine kurze Geschichte der Menschheit» und «Homo Deus». Der Historiker lebt in Israel und lehrt an der University of Jerusalem.
In einem Gastkommentar in der «Washington Post» geht Harari hart ins Gericht mit Premierminister Benjamin Netanjahu. Er macht ihn de facto für das Massaker der Hamas verantwortlich. Konkret stellt er fest:
Tatsächlich war Netanjahus Verhalten vor dem Massaker unterirdisch. Er hat die Gefahr der Hamas heruntergespielt. Er hat seinen Verteidigungsminister entlassen – und kurz darauf auf Druck wieder eingestellt –, weil dieser ihn warnen wollte. Das Gleiche tat er mit Warnungen seiner eigenen und den ägyptischen Geheimdienstleute.
Kurz: Der populistische Kraftmeier hat ausgerechnet dort versagt, wo er angeblich am stärksten ist: beim Schutz der eigenen Bevölkerung. «Netanjahus aktuelle Regierungskoalition ist bei weitem die schlimmste», stellt Harari daher fest. «Es ist eine Allianz aus messianischen Eiferern und schamlosen Opportunisten, welche die vielen aktuellen Probleme Israels ignoriert haben – inbegriffen der sich verschlechternden Sicherheitssituation – und stattdessen sich darauf konzentriert haben, unbeschränkte Macht für sich selbst zu ergreifen.»
David Grossman ist einer der führenden Schriftsteller der Gegenwart. Er ist Autor von Büchern wie «Diesen Krieg kann keiner gewinnen» und hat mehrere internationale Preise gewonnen. Sein zweiter Sohn ist 2006 im Südlibanon gefallen.
Auch Grossman stellt Netanjahu ein vernichtendes Zeugnis aus und spricht in der «Financial Times» von einem Verrat der Regierung an ihrem Volk:
Weder Harari noch Grossman wollen die scheusslichen Taten der Hamas in irgendeiner Art und Weise entschuldigen.
Netanjahu hat nicht nur sein Volk verraten, er hat auch dafür gesorgt, dass die so entscheidende Unterstützung der amerikanischen Juden für Israel geschwächt wurde. «Die Tage, an denen Israel auf die automatische Unterstützung der amerikanischen Juden zählen konnte, sind vorbei», stellt Edward Luce in der «Financial Times» fest. «Dafür ist der Premierminister eigenhändig verantwortlich.»
Gleichzeitig hat Netanjahu den internationalen Ruf Israels beschädigt, indem er gemeinsame Sache mit Viktor Orbán, dem ungarischen Premierminister, gemacht hat. Er hat dessen offen antisemitische Hetzkampagne gegen den Financier George Soros unterstützt und damit nicht nur die liberalen Juden vor den Kopf gestossen.
Populisten wie Netanjahu können in der neuen Weltordnung sehr grossen Schaden anrichten. Die Welt ist nicht mehr in zwei Supermächte aufgeteilt, wie dies zur Zeit des Kalten Krieges der Fall war. Damals gehörte man dem einen oder dem anderen Lager an und hielt sich mehr oder weniger an die Direktiven der USA, respektive der UdSSR.
Die unilaterale Hegemonie-Macht, welche die USA nach dem Fall der Berliner Mauer innehatte, ist ebenfalls am Bröckeln. Die aktuelle Weltordnung ist geprägt angeschlagenen Grossmächten:
Russland ist durch seinen idiotischen Krieg in der Ukraine so geschwächt, dass es nicht einmal an seiner Grenze mehr für Ordnung sorgen kann. Das zeigen die Ereignisse in Nagorno-Karabach, wo die Schutzmacht Russland ihre Aufgabe aufgegeben und den Schwanz eingezogen hat.
China erhebt zwar den Anspruch, auf der geopolitischen Bühne ein gewichtiges Wort mitreden zu wollen. Ausser warmer Luft – etwa die belanglosen Friedensvorschläge im Ukraine-Konflikt – und markigen Worten der «Wolfs-Diplomaten» liefern Xi Jinping & Co. bisher wenig Konkretes.
Europa ist zwar ein wirtschaftlicher Riese, aber ein militärischer Zwerg und daher weitgehend zur Rolle eines Zuschauers verdammt. Die Amerikaner schliesslich zerfleischen sich gegenseitig. Weil die Stelle eines Speakers im Abgeordnetenhaus vakant ist, ist der US-Kongress derzeit nicht einmal in der Lage, eine Resolution zu Israel zu verabschieden. Schuld daran ist ein Konflikt innerhalb der Republikanischen Partei. Derzeit sieht es nicht danach aus, als ob dieser Bruderkrieg bald beendet sein wird.
Eine multilaterale Welt, in der verschiedene Nationen gleichberechtigt die Weltordnung bestimmen, ist in der Theorie eine gute Sache. Die Praxis sieht anders aus. Die Ohnmacht der Grossmächte wird zu einem idealen Klima für die Populisten wie Netanjahu und Orbán.
Michael Kimmage und Hanna Notte stellen daher in «Foreign Affairs» ernüchtert fest: «Die Tatsachen, dass die ehemaligen Grossmächte abgelenkt sind, wird zu einem kollektiven Fluch. Macht-Vakuen vermehren sich. In Afrika, auf dem Balkan, im Nahen Osten und im Süd-Kaukasus brechen alte Konflikte wieder auf. Mittlere Mächte und lokale Spieler treten immer selbstbewusster auf. Oft müssen die Grossmächte dabei hilflos zusehen.»
Der Traum einer multilateralen Welt ist im Begriff, zu einem Albtraum zu werden. Es droht eine Welt ohne Ordnungsmacht, in der Populisten an der Macht sind und Anarchismus und Terror leichtes Spiel haben. Die aktuellen Ereignisse in Israel sind daher vielleicht nur ein Vorbote der Dinge, die uns noch erwarten.