Thomas Greminger kennt einige Hamas-Vertreter persönlich. Er hat im Auftrag des Bundesrats einst mit Vertretern der Organisation verhandelt, um den Konflikt mit Israel zu entschärfen. Damals leitete er die Abteilung für menschliche Sicherheit im Eidgenössischen Aussendepartement. Anschliessend arbeitete er für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, kurz OSZE, und führte Verhandlungen im Ukrainekonflikt.
Heute leitet der 62-Jährige das Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik. Von seinen Mitarbeiterinnen wird er als «Herr Botschafter» vorgestellt. Im Gespräch tritt er aber unkompliziert und direkt auf.
Sie haben ab 2005 über einige Jahre mit Hamas-Vertretern verhandelt. Wie nahmen Sie diese wahr?
Thomas Greminger: Wir haben mit Vertretern des moderaten Flügels der Hamas gesprochen und nahmen diese als relativ zugänglich und pragmatisch wahr.
Weshalb suchte die Schweiz als erstes Land den Dialog mit diesen Extremisten?
Damals gab es zwar schon einige radikale Elemente, aber eben auch viele moderate Kreise. Diesen Teil der Bewegung wollten wir auf unsere Seite ziehen, damit er sich nicht ebenfalls radikalisiert. Die moderaten Kräfte hätten sich vom Hamas-Diktum distanzieren sollen, wonach man alle Israelis ins Meer drängen müsse. Das war schon damals eine sehr sensible Angelegenheit. Wir versuchten, die Verhandlungen so diskret wie möglich zu führen. Wir hielten sie aber auch nicht geheim und sprachen mit der Zeit öffentlich darüber.
Warum sind die Verhandlungen gescheitert?
Die Hamas wollte mit der Zeit mit gewichtigeren Akteuren als mit der Schweiz in den Dialog treten. Wir wollten die EU in den Dialog einbeziehen. Unter EU-Diplomaten gab es auch ein grosses Interesse dafür. Aber unter den EU-Mitgliedsstaaten gab es Widerstand. Das Vorhaben ist deshalb nicht gelungen. Die Hamas hat sich in späteren Jahren zunehmend radikalisiert.
Im Nachhinein zeigt sich, dass es gefährlich war, sich auf eine Terrororganisation einzulassen.
Ich sehe es umgekehrt. Damals, als die Hamas die ersten Wahlen gewonnen hat, schien es noch möglich, mit den moderaten Strömungen zusammenzuarbeiten. Hätte dieser Dialog weitergeführt werden können, hätten wir vielleicht eine Radikalisierung verhindern können.
Geben Sie die Schuld am Scheitern der EU?
Nein. Schuldzuweisungen bringen nichts. Es war vor allem eine verpasste Möglichkeit der internationalen Diplomatie. Wir waren damals enttäuscht, dass keiner der grossen Akteure in den Dialog eingestiegen ist.
Inzwischen will der Bundesrat die Hamas als Terrororganisation einstufen. Zu Recht?
Ja, das Vorgehen der Hamas ist terroristisch. Deshalb ist es folgerichtig, dass der Bundesrat dies auch so benennt. Doch selbst mit einer Terrororganisation könnte man einen Dialog führen, wenn man wollte. Man müsste dafür jedoch informelle, vertrauliche Räume schaffen, um das Verhandlungspotenzial auszuloten. Aber das ist im Moment vermutlich kein Thema.
Jetzt beginnt in Israel der Gegenschlag gegen die Hamas. Mit welchem Worst-Case-Szenario rechnen Sie?
Die grosse Frage ist, wie die arabische Welt auf eine Bodenoffensive von Israel im Gazastreifen reagieren wird. Werden die Hisbollah und der Iran noch mehr Öl ins Feuer giessen und Israel vom Libanon aus attackieren? Dann wird Israel wohl auch dort massiv zurückschlagen. Eine andere Frage ist, ob auch die Westbank in die militärische Auseinandersetzung einbezogen wird. Die Wahrnehmung der Brutalität einer Bodenoffensive könnte die Leute in den arabischen Staaten noch wütender machen. Sie könnten ihre Regierungen unter Druck setzen, ihre Haltung gegenüber Israel massiv zu verschärfen. So könnten die alten Feindschaften zwischen den arabischen Ländern und Israel wieder aufbrechen.
Sehen Sie auch Grund zur Hoffnung?
In der Region gibt es wichtige Akteure wie die USA, die kein Interesse an einer weiteren Eskalation haben. Wenn die Antwort von Israel nun moderat ausfallen würde, könnte es sein, dass die Parteien zumindest mittelfristig wieder miteinander sprechen und die Palästinenserfrage grundsätzlich zu lösen versuchen. Das Beste wäre immer noch eine Zweistaatenlösung. Aber angesichts des Hasses, den die Hamas ausgelöst hat, scheint dies politisch zumindest kurzfristig unrealistisch.
Was bedeutet der neue Nahostkonflikt für den Ukrainekrieg?
Beide Seiten werden ihn für ihre Zwecke instrumentalisieren, wie Putins Stellungnahme zeigt. Ein interessanter Nebenaspekt werden die iranischen Drohnen sein: Wohin wird Iran diese liefern, wenn auch die Hamas einen grösseren Bedarf daran haben wird? Iran behauptet zwar, dass Russland diese inzwischen selber produzieren kann. Wir wissen aber nicht, ob das stimmt.
Hätten Sie gedacht, dass wir je zwei so grosse Kriege gleichzeitig erleben werden?
Nein, das ist erstaunlich. Das ist der besorgniserregende Trend des 21. Jahrhunderts: Konflikte werden wieder vermehrt militärisch gelöst.
Mit welchen Auswirkungen rechnen Sie für die Schweiz?
Wenn der Konflikt im Nahen Osten lange andauern sollte, könnte die terroristische Gefahr in der Schweiz wieder grösser werden - wie in ganz West- und Mitteleuropa. Andere islamistische Gruppierungen wie der IS könnten sich mit der Hamas solidarisieren und den Krieg für ihre Zwecke nutzen.
Was verbindet IS-Terroristen mit der Hamas?
Die palästinensische Frage war für den islamistischen Terror schon immer eine wichtige Begründung. Jetzt erhält der IS damit wieder neue politische Argumente. Direkte Beziehungen zwischen den Terrororganisationen sind dafür gar nicht nötig. Allein der Umstand, dass ein blutiger Krieg gegen die Hamas geführt wird, könnte andere Islamisten auf den Plan rufen.
Die Terrororganisation IS scheint aber zerschlagen zu sein.
Ja. Sie hat sich stark individualisiert. Die terroristischen Aktionen der jüngsten Zeit gingen von Einzelkämpfern aus. Wenn nun ein längerer brutaler Krieg ausbricht, könnten wieder vermehrt Einzeltäter aktiv werden und versuchen, sich besser zu organisieren. Die Eskalationen im Nahen Osten sind ein gefundenes Fressen für IS-Terroristen, um wieder stärker zu mobilisieren. Ob der Westen gut gerüstet ist, um dies zu verhindern, werden wir sehen. (aargauerzeitung.ch)
Ich hoffe, dass per Sofort sämtliche Geldflüsse nach Gaza gestoppt werden. Diese werden sicherlich nicht für das eingesetzt, für was sie von Seite CH gedacht sind.