Für Ursula von der Leyen schlägt die Stunde der Wahrheit: Zwei Wochen nach ihrer Nominierung als Präsidentin der EU-Kommission durch die Staats- und Regierungschefs muss die deutsche Verteidigungsministerin sich in Strassburg dem EU-Parlament stellen. Am Dienstag um 9 Uhr wird die CDU-Politikerin eine Rede halten. Die Abstimmung ist für 18 Uhr angesetzt.
«Die Chance, dass von der Leyen zur neuen Kommissionspräsidentin gewählt wird, ist da; allerdings könnte es ziemlich knapp für sie werden», schreibt die «Süddeutsche Zeitung». Die Abneigung im Parlament richte sich weniger gegen sie persönlich als gegen die Umstände ihrer Nominierung. Sie werde «womöglich die Quittung dafür bekommen», so die Zeitung weiter.
In den Hearings vor den Fraktionen wirkte die 60-Jährige nicht sonderlich dossierfest. Deshalb dürfte bis zuletzt offen bleiben, ob Ursula von der Leyen am Dienstagabend die Hürde des absoluten Mehrs von 374 der aktuell 747 EU-Abgeordneten nehmen wird.
Die Europäische Volkspartei, die Fraktion der Konservativen, ist sauer, dass die Staats- und Regierungschefs ihren Spitzenkandidaten Manfred Weber verschmäht haben. Dennoch werden die 182 Abgeordneten praktisch geschlossen für von der Leyen stimmen. Auch Weber hat sich hinter sie gestellt. Die 108 Mitglieder der liberalen Fraktion Renew Europe dürften sie ebenfalls grossmehrheitlich unterstützen.
Am grössten ist der Widerstand bei den linken und grünen Parteien. Deshalb dürfte von der Leyen auf Stimmen von Populisten und Nationalisten angewiesen sein. Die italienische Lega hat angedeutet, sie wählen zu wollen, doch die Kandidatin selbst lehnt diese Hilfe laut dem Portal Euractiv ab. Dafür könne sie auf die Stimmen der Fünf-Sterne-Bewegung zählen.
Sympathie für Ursula von der Leyen hat auch die rechtsnationale polnische Regierungspartei PiS angetönt. Ihre 25 Abgeordneten könnten am Ende den Ausschlag geben, dass die CDU-Politikerin die Wahl schafft. «Ich bin jetzt zuversichtlicher, aber es ist noch nicht gelaufen», meinte der langjährige CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok im Interview mit Spiegel Online.
Die Fraktionen der Linken und Grünen wollen von der Leyen nicht wählen. Die Rechtsaussen-Fraktion Identität und Demokratie, der unter anderem AfD, FPÖ, Lega und das Rassemblement National angehören, ist ebenfalls mehrheitlich gegen sie. Falls auch die Sozialdemokraten die Kandidatin ablehnen, wird es eng für sie.
Sie stellen mit 154 Abgeordneten die zweitstärkste Fraktion und sind empört darüber, dass ihr Spitzenkandidat Frans Timmermans bei der Juncker-Nachfolge am Widerstand aus Polen und Ungarn gescheitert ist. Allerdings sind die Sozialdemokraten nicht geschlossen gegen Ursula von der Leyen. Spanier, Portugiesen und Italiener sollen ihr gegenüber wohlwollend eingestellt sein.
Der grösste Widerstand kommt ausgerechnet aus Deutschland. Die SPD machte letzte Woche mit einem Papier Stimmung gegen die Verteidigungsministerin. Zuletzt erhielt die SPD-Front jedoch Risse. Der frühere Parteichef Sigmar Gabriel meinte in der «Bild am Sonntag», von der Leyen könne «eine gute Kommissionspräsidentin werden». Vor zwei Wochen hatte er ihre Nominierung im «Spiegel» noch als «beispiellosen Akt der politischen Trickserei» angeprangert.
Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass Ursula von der Leyen es am Dienstag schaffen wird, wenn auch ohne Glanz und womöglich mit dem Makel behaftet, dass sie auf Stimmen aus dem Lager rechts der EVP angewiesen war. Auch die Umstände ihrer Nominierung sind zweifelhaft, doch daran ist das EU-Parlament mitschuldig. Es war nicht fähig, sich auf eine Kandidatur zu einigen.
Wenn das Parlament nach der Europawahl gesagt hätte: «Hier ist unser Kandidat, einen anderen wählen wir nicht», dann hätten die Staats- und Regierungschefs ihn kaum ablehnen können, sagte Elmar Brok, der dem Parlament fast 40 Jahre angehört hatte, zu Spiegel Online: «Aber das Parlament hat in dieser Hinsicht versagt.»
Die Staats- und Regierungschefs hätten einen Monat Zeit, um einen neuen Kandidaten oder eine Kandidatin vorzuschlagen. Das ist leichter gesagt als getan, nicht nur wegen der Sommerpause. Ursula von der Leyen ist Teil eines Personalpakets, zu dem unter anderem der Belgier Charles Michel als Ratspräsident und Christine Lagarde als Präsidentin der Europäischen Zentralbank gehören.
Dieses Paket lasse sich nicht so leicht aufschnüren, meint die «Süddeutsche Zeitung». Ausserdem muss neben dem Präsidium auch die Kommission als Ganzes neu besetzt und vom Parlament bestätigt werden. Dieser Prozess dürfte sich verzögern, weshalb die aktuelle Kommission von Jean-Claude Juncker wohl über ihr «Ablaufdatum» am 31. Oktober hinaus im Amt bleiben müsste.