«Als ich gesehen habe, dass mir eine Abschiebung droht, wäre ich fast aus den Socken gefallen», erklärte der 25-Jährige vor dem Badener Bezirksgericht. «Ich dachte, dass das bei Mord oder Gewalttaten vorkommen kann, aber nicht bei einer Geisterfahrt.»
Mit jenem Ausritt auf dem Pannenstreifen der Autobahn bei Wettingen vor zwei Jahren setzte er einiges aufs Spiel. Seine Eltern sind bosnische Serben, er selbst hat den bosnischen Pass. Zur Welt kam er im Kanton Schwyz, wo er aufwuchs, die Schule besuchte und bis heute lebt. Sein gesamter Freundeskreis und seine Eltern befänden sich in der Schweiz. Bosnien-Herzegowina kenne er nur aus den Familienferien.
Seine Zukunft will sich der junge Sozialpädagoge hierzulande aufbauen. Er studiert berufsbegleitend in Zürich, arbeitet in einem Sonderschulheim mit Kindern und Jugendlichen. Eine Einbürgerung in der Schweiz peile er an, finanziell sei sie ihm bisher nicht möglich gewesen. Trotzdem wollte das Gericht von ihm wissen, wie zumutbar eine Ausschaffung für ihn wäre und «wie gut integriert» er sei. So musste er bei der Anhörung zum Beispiel erläutern, in welcher Sprache er denn träume («Deutsch») und ob er sich in Bosnien zurechtfinden würde («Es würde mir ja nichts anderes übrig bleiben»). Wie war der Mann in diese Situation geraten?
An einem Samstagabend im Dezember 2018 hatte er mit Freunden einige Stunden auf dem Zürcher Weihnachtsmarkt verbracht, wobei auch der ein oder andere Glühwein geflossen sei, wie er erzählte. Nach anschliessendem Ausgang habe ein Freund ihn am frühen Sonntagmorgen nach Hause nach Gersau gefahren. Kaum dort angekommen, habe er sich jedoch in das Auto seiner Mutter gesetzt und sei in Richtung Lenzburg gefahren.
Dort wohnte er damals und so sei er näher am Wohnort seiner Cousine gewesen, die am nächsten Tag Geburtstag hatte. Die Windschutzscheibe des Autos war auf der Beifahrerseite mit einem Steinschlag beschädigt, der sich am Tag zuvor ereignet haben soll – «aber wir konnten es noch nicht in die Werkstatt bringen, die hat am Wochenende zu», erklärte der Beschuldigte.
Er sei also angetrunken mit einem fahruntüchtigen Auto unterwegs gewesen, fragte Gerichtspräsident Christian Bolleter. «In der Nacht ist eine dumme Entscheidung auf die nächste gefolgt. Ich habe da nicht viel überlegt», gestand der Beschuldigte. Bolleter entgegnete daraufhin: «Wenn man die Geschichte erzählt, kommt das wohl noch ein paarmal: Dass Sie nicht viel überlegt haben.» Als der Angeklagte nämlich kurz nach 5 Uhr morgens bei Neuenhof auf der Autobahn unterwegs war, entdeckte er vor sich eine Polizeikontrolle.
«Mein Herz fing sofort an zu pumpen. Ich konnte gar nicht überlegen, da habe ich sofort den Warnblinker angemacht und gewendet», schilderte er. Rund 900 Meter sei er dann bei durchschnittlich 68 Stundenkilometern auf dem Pannenstreifen in die falsche Richtung zurückgefahren. Die Einfahrt Wettingen Ost nutzte er schliesslich als Ausfahrt. Um danach zwischen Wettingen und Würenlos wieder auf die richtige Spur zu kommen, habe er einen doppelten Fahrstreifen überfahren. Danach habe ihm die Polizei den Weg abgeschnitten.
Der Angeklagte gab sich im Gerichtssaal geständig und kooperativ, sofern er sich an die Einzelheiten erinnern konnte. Er war aber so nervös, dass er gar seine beiden Vorstrafen vergass: Mit 15 hatte er sich des Ladendiebstahls schuldig gemacht – um den «falschen Leuten zu gefallen», habe er ein Paar Handschuhe geklaut. Und 2018 wurde er schon einmal zu einer Geldstrafe auf Bewährung verurteilt, da er einen Auffahrunfall verursachte. Seit dem zweiten Vorfall am Steuer entschied er, das Fahren nun gänzlich sein zu lassen; den Führerschein hat man ihm entzogen. Er habe «Gefallen am ÖV» gefunden, so der Angeklagte.
Der 25-Jährige betonte mehrmals, dass es sich bei seiner Geisterfahrt um einen «Aussetzer» gehandelt habe, der aus der Angst vor einem Alkoholtest resultiert sei – die Polizei stellte später rund 1.2 Promille fest.
Für die Staatsanwaltschaft lag eine «qualifiziert grobe Verletzung» der Verkehrsregeln vor, mit der das hohe Risiko eines schweren, wenn nicht gar eines tödlichen Unfalls einhergeht. Der Vorfall käme somit dem Urteil für einen Raser gleich. Staatsanwalt Marc Dellsperger forderte schliesslich 20 Monate Haft auf Bewährung, eine Geldbusse in der Höhe von 2500 Franken, die Widerrufung des vorherigen Urteils (was eine Zahlung der damals geforderten Geldbusse bedingt) sowie einen fakultativen Landesverweis.
Die Verteidigerin wertete den Vorfall hingegen lediglich als «grobe Verletzung», die auch mit einer Geldstrafe geahndet werden könne. Sie forderte eine Geldbusse von 90 Tagessätzen von maximal 70 Franken. Als «grobe Verletzung» gilt bereits das Überfahren einer roten Ampel. Schliesslich seien die beiden mittleren Fahrstreifen der Autobahn über weite Strecken gesperrt gewesen, der zu jener Uhrzeit spärliche Verkehr führte über die Überholspur. Somit seien zwei Spuren Abstand zwischen dem Pannenstreifen und dem Verkehr gewesen.
Das liessen die Richter nicht gelten. Sie folgten mehrheitlich der Argumentation der Staatsanwaltschaft und verurteilten den Mann zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 20 Monaten, einer Busse und zum Widerruf des letzten Urteils. «Es war ein Zufall, dass auf der Fahrt nichts passiert ist», befand der Gerichtspräsident. Auf den Landesverweis verzichteten die Richter zur Erleichterung des Angeklagten – dieser habe seine Lektion nun wohl endgültig gelernt. (aargauerzeitung.ch)
"Auf den Landesverweis verzichteten die Richter zur Erleichterung des Angeklagten – dieser habe seine Lektion nun wohl endgültig gelernt."