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Tokio 2020: Olympia ohne Publikum – auch im TV sollte man nicht zusehen

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Demonstranten protestieren in Tokio gegen die Durchführung der Olympischen Spiele.Bild: keystone
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Olympia ohne Publikum – warum man auch im TV nicht zuschauen sollte

Die Olympischen Spiele in Tokio sind die ersten ohne Publikum. Ein Wahnsinn. Der Gipfel der Heuchelei ist erreicht. Eigentlich sollten die Spiele von 2021 vom TV-Publikum weltweit boykottiert werden.
09.07.2021, 10:4709.07.2021, 12:13
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Die olympische Idee gehört zu den grössten der Geschichte. Die Spiele haben einen stärkeren Einfluss auf Politik und Kultur als jede andere Sportveranstaltung. Weil sie alle vier Jahre die Menschen aus allen Kulturkreisen und allen Sportarten zusammenbringen. Dadurch erreichen sie eine viel höhere Wirkung als eine Fussball-WM.

Wir leben zwar im Zeitalter der Bildermaschinen und sonstigen Apparate, die es uns ermöglichen, mit Menschen an fast jedem Punkt der Erde zu kommunizieren. Aber nichts, gar nichts kann die persönliche Begegnung, das Gespräch, das Zuhören ersetzen.

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Video: watson/Knackeboul, Madeleine Sigrist, Emily Engkent

Die Bedeutung der Olympischen Spiele in den Jahren des Kalten Krieges wird immer noch unterschätzt. Die zahllosen Kontakte mit der westlichen, freien Kultur – und 1980 die ersten Spiele in Moskau, im «Zentrum des Bösen» – haben bei der Auflösung des Sozialismus eine wichtige Rolle gespielt.

Ein Groove wie Woodstock

Die Seele dieser einzigartigen globalen Veranstaltung: die Menschen. Die Sportlerinnen und Sportler. Aber ebenso die Zuschauerinnen und Zuschauer. Die Besucherinnen und Besucher aus aller Welt. Olympische Spiele haben immer auch irgendwie einen Groove wie Woodstock (aber natürlich weniger chaotisch). Sie sind bei aller Rivalität und allen ideologischen Gegensätzen – von tragischen Ausnahmen abgesehen (München 1972) – friedlich.

Die grössten Krisen der Olympischen Spiele

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Die grössten Krisen der Olympischen Spiele
Absagen durch Weltkriege: Die für 1916, 1940 und 1944 vorgesehenen Austragungen der Olympischen Spiele in Berlin, Tokio und London werden abgesagt.
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Nach dem Erlebnis Olympia – ich habe mehr als ein Dutzend Spiele als Chronist erlebt – treibt nicht nur einen Romantiker die Frage um: Warum nur? Warum gibt es Kriege? Warum Rassismus?

Die Unschuld mit Nazi-Spielen für immer verloren

Aber wie alle grossen Ideen wird auch die olympische Idee missbraucht. Deshalb hat sie die wahrscheinlich höchste Stufe der Heuchelei entwickelt. Unter Heuchelei verstehen wir ein Sich-Verstellen zum Vortäuschen nicht vorhandener Gefühle oder das Verschleiern der wahren Absichten.

Die olympischen Gralshüter wollten unpolitisch sein. Aber spätestens mit den Spielen von 1936 in Berlin und Garmisch haben sie ihre politische Unschuld für immer verloren.

Während des Kalten Krieges (1945 bis zum Ende des Sozialismus in Europa) sind die Spiele sogar hochpolitisch und die globale Bühne, auf der der Wettstreit zwischen den Gesellschaftssystemen (Kommunismus vs. Kapitalismus) ausgetragen wird. Und es fehlt nicht an heuchlerischen Stimmen, die flöten, der Medaillenspiegel (das Klassement der Nationen nach Medaillen) sei völlig unwichtig.

Gut gegen Böse wie im 007-Film

In Wirklichkeit ist es Klassenkampf pur. Vor den Spielen 1960 in Rom drückt beispielsweise die CIA allen Mitgliedern der US-Delegation den Text der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und eine Broschüre über die Vorzüge des American Way of Life auf Russisch in die Hand. Zum Verteilen unter den Vertretern der Ostblock-Länder. Die Frage «Werden wir die Russen schlagen?» beantwortet der Cheftrainer der US-Leichtathleten im Fernseh-Interview so: «Wir werden sie killen.»

Archivbilder der Woche KW12 Olympische Spiele 1972 in München: Siegerehrung Speerwurf. Klaus Wolfermann (BRD/Gold) auf dem Siegerpodest mit Jänis Lusis (UdSSR/Silber) und Bill Schmidt (USA/Bronze), di ...
Die Sportler sahen es oft weniger eng als die Funktionäre: Handschlag zwischen den Speerwerfern Jänis Lusis (Sowjetunion, Silber) und Bill Schmidt (USA, Bronze).Bild: IMAGO / Horstmüller

Die russische Delegation wiederum wird im gleichen Jahr vor der Abreise in Moskau durchs Lenin-Mausoleum geführt. Eindringlich wird an den Patriotismus appelliert und die Prawda prägt eine ihrer ewigen sozialistischen Weisheiten: Die Körperkultur sei die Kleidung der Nation.

Die Heuchelei mit dem Amateurstatus

Die Geschichte der olympischen Boykotte – auch die Schweiz hat 1956 und 1980 ein paar Kapitel geschrieben – soll hier nicht noch einmal nacherzählt werden. Die Kultur des staatlich geförderten und sonstigen Dopings auch nicht. Und nicht die Tragik von 1972 mit dem Attentat auf die israelische Delegation.

Bis in die 1980er Jahre hinein lebt die Heuchelei, Geld spiele keine Rolle: Der Amateurstatus verbietet es Sportlerinnen und Sportler offiziell, finanziellen Nutzen aus ihrem Olympischen Ruhm zu ziehen. Die grösste Heuchelei in der Kulturgeschichte des Sportes. Noch 1972 wird der österreichische Skikaiser Karl Schranz von den Spielen in Sapporo verbannt, weil er in einem T-Shirt mit einem Markenaufdruck ein Benefiz-Fussballspiel bestritten hat. Für Bernhard Russi wird der Weg frei zu ewigem Ruhm. Skilehrer bleiben lange Zeit von den Spielen ausgeschlossen: Weil sie mit ihrem Sport Geld verdienen, gelten sie als Profi.

Erst beim IOC-Kongress von 1981 unter Präsident Juan Antonio Samaranch wird der Amateurstatus gestrichen. Nun öffnen sich die Geldschleusen. Seither gibt es neben «schneller, höher, stärker» ein weiteres olympisches Motto: «Money talks – immer mehr und mehr und mehr Geld.»

Frei nach Homer Simpson: Wenn's um Geld geht, ist Cash die Kohle

Und neue Gipfelhöhen der Heuchelei werden erreicht. Auf die Frage, was der Sinn von Olympischen Spielen ohne Publikum in Tokio sei, sagte mir kürzlich ein hochrangiger IOC-General: «Es geht nur um die Athletinnen und Athleten und nicht ums Geld. Wir haben nämlich herausgefunden, dass etwa 70 Prozent aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Tokio zum ersten und wahrscheinlich einzigen Mal dabei sind. Wir können ihnen das olympische Erlebnis doch nicht verwehren! Wir müssen die Spiele durchführen!» Der ältere Herr hat immerhin so viel Sinn für Ironie, dass wir dann herzlich gelacht haben.

Tokio 2021 wird nur wegen des Geldes durchgeführt. Oder besser: durchgezwängt. Es geht um TV- und Werbegelder in Milliardenhöhe, die nicht fliessen, wenn die Spiele ausfallen.

Japanese athletes compete during an athletics test event for Tokyo 2020 Olympics Games at the National Stadium, in Tokyo, Japan, Sunday, May 9, 2021. Fans will be banned from Tokyo-area stadiums and a ...
So werden wir die Olympischen Spiele erleben: Aufnahme eines Test-Wettkampfs im Mai.Bild: keystone

Was aber, wenn diese Spiele ohne Publikum ein Erfolg werden? Es ist eine beängstigende Vorstellung, die Orson Welles wohl in seine Romane eingeflochten hätte.

Wenn es nämlich möglich ist, Olympische Spiele in völliger Sterilität nur fürs TV-Publikum durchzuführen, dann stellt sich die Frage: Wozu für Milliarden Infrastrukturen, Stadien, Arenen bauen? Wozu Tausende von freiwilligen Helferinnen und Helfern mobilisieren? Wozu überhaupt die Spiele immer wieder an anderen Orten austragen?

Wie eine Mondlandung in einem Hollywood-Studio

Es würde künftig genügen, an einem Ort Wettkampfstätten ohne Tribünen zu bauen – sozusagen ein potemkinsches Dorf des Sportes – und dort alle vier Jahre das globale Sportspektakel aufzuführen. Milliarden könnten eingespart werden. Bei gleich hohen TV- und Werbeeinahmen. Und Schummeleien wären viel einfacher: Die Welt sieht dann ja nur noch, was die Welt über TV-Kameras sehen darf. Wie eine Mondlandung, die in einem Hollywood-Studio inszeniert wird.

FILE - In this July 28, 1984 file photo Bill Suiter "Rocket Man" soars with the help of a jet pack during the welcoming of nations at the Opening ceremonies of the 1984 Summer Olympics in th ...
Keine Mondlandung, aber fast so legendär: der «Rocket Man» bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles.Bild: AP

Mit Spielen ohne Publikum, mit Spielen ohne die Möglichkeit der Begegnungen und Gespräche, des Informations- und Gedankenaustausches, mit einer völligen Abschottung der Athleten, in einer Blase, die auch das olympische Dorfleben, das zwangslose Miteinander der Athletinnen und Athleten unmöglich macht, gibt es den oft zitierten olympische Geist nicht mehr.

Und wenn sterile, künstliche Olympische Spiele ohne Publikum (und die entsprechenden Emotionen), ohne den olympischen Geist ein kommerzieller Renner mit entsprechenden TV-Quoten werden – könnten dann künftig nicht auch andere Sportereignisse unter Ausschluss des Publikums inszeniert werden? Eigentlich sollten die Spiele von 2021 vom TV-Publikum weltweit boykottiert werden.

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Die Sportstätten der Olympischen Spiele 2020 in Tokio
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Die Sportstätten der Olympischen Spiele 2020 in Tokio
Im neuen Olympiastadion von Tokio, das 68'089 Zuschauern Platz bietet, finden an den Sommerspielen von 2020 Eröffnungs- und Schlussfeier, die Leichtathletik-Wettbewerbe sowie einige Fussball-Spiele statt.
quelle: epa / kimimasa mayama
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Video: srf
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51 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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El_Chorche
09.07.2021 11:02registriert März 2021
Dann kann man davon ausgehen, dass der Autor sich bis anhin keine EM Spiele angeschaut hat und auch die WM in Katar boykottiert?
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Nyahui
09.07.2021 11:20registriert November 2019
Muss ich diesen Artikel verstehen? Sorry, ihr postet die ganze Zeit über die EM, macht aber nebenbei Artikel, wie gefährlich die Delta Variante sei.Geht nicht ganz auf. Seid doch froh, dass Olympia zur Sichherheit von allen vor keinem Publikum stattfinden. Und ja, es geht ums Geld, aber was ist dabei anders, als bei der EM? Immerhin verzichten sie bei Olympia auf die Zuschauer - wisst ihr wie viel Geld Japan da durch die Lappen geht?
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MarGo
09.07.2021 11:26registriert Juni 2015
Geld Geld Geld, das ist leider überall so...
Aber auf Olympia bereiten sich Tausende Sportler jahrelang vor, für die meisten ist es der grösste Event ihres Lebens... Nur schon aus Respekt vor den Athleten schalte ich ein...
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«Keine Anhaltspunkte»: Drogen-Ermittlungen gegen Handball-Goalie Portner eingestellt
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