Die olympische Idee gehört zu den grössten der Geschichte. Die Spiele haben einen stärkeren Einfluss auf Politik und Kultur als jede andere Sportveranstaltung. Weil sie alle vier Jahre die Menschen aus allen Kulturkreisen und allen Sportarten zusammenbringen. Dadurch erreichen sie eine viel höhere Wirkung als eine Fussball-WM.
Wir leben zwar im Zeitalter der Bildermaschinen und sonstigen Apparate, die es uns ermöglichen, mit Menschen an fast jedem Punkt der Erde zu kommunizieren. Aber nichts, gar nichts kann die persönliche Begegnung, das Gespräch, das Zuhören ersetzen.
Die Bedeutung der Olympischen Spiele in den Jahren des Kalten Krieges wird immer noch unterschätzt. Die zahllosen Kontakte mit der westlichen, freien Kultur – und 1980 die ersten Spiele in Moskau, im «Zentrum des Bösen» – haben bei der Auflösung des Sozialismus eine wichtige Rolle gespielt.
Die Seele dieser einzigartigen globalen Veranstaltung: die Menschen. Die Sportlerinnen und Sportler. Aber ebenso die Zuschauerinnen und Zuschauer. Die Besucherinnen und Besucher aus aller Welt. Olympische Spiele haben immer auch irgendwie einen Groove wie Woodstock (aber natürlich weniger chaotisch). Sie sind bei aller Rivalität und allen ideologischen Gegensätzen – von tragischen Ausnahmen abgesehen (München 1972) – friedlich.
Nach dem Erlebnis Olympia – ich habe mehr als ein Dutzend Spiele als Chronist erlebt – treibt nicht nur einen Romantiker die Frage um: Warum nur? Warum gibt es Kriege? Warum Rassismus?
Aber wie alle grossen Ideen wird auch die olympische Idee missbraucht. Deshalb hat sie die wahrscheinlich höchste Stufe der Heuchelei entwickelt. Unter Heuchelei verstehen wir ein Sich-Verstellen zum Vortäuschen nicht vorhandener Gefühle oder das Verschleiern der wahren Absichten.
Die olympischen Gralshüter wollten unpolitisch sein. Aber spätestens mit den Spielen von 1936 in Berlin und Garmisch haben sie ihre politische Unschuld für immer verloren.
Während des Kalten Krieges (1945 bis zum Ende des Sozialismus in Europa) sind die Spiele sogar hochpolitisch und die globale Bühne, auf der der Wettstreit zwischen den Gesellschaftssystemen (Kommunismus vs. Kapitalismus) ausgetragen wird. Und es fehlt nicht an heuchlerischen Stimmen, die flöten, der Medaillenspiegel (das Klassement der Nationen nach Medaillen) sei völlig unwichtig.
In Wirklichkeit ist es Klassenkampf pur. Vor den Spielen 1960 in Rom drückt beispielsweise die CIA allen Mitgliedern der US-Delegation den Text der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und eine Broschüre über die Vorzüge des American Way of Life auf Russisch in die Hand. Zum Verteilen unter den Vertretern der Ostblock-Länder. Die Frage «Werden wir die Russen schlagen?» beantwortet der Cheftrainer der US-Leichtathleten im Fernseh-Interview so: «Wir werden sie killen.»
Die russische Delegation wiederum wird im gleichen Jahr vor der Abreise in Moskau durchs Lenin-Mausoleum geführt. Eindringlich wird an den Patriotismus appelliert und die Prawda prägt eine ihrer ewigen sozialistischen Weisheiten: Die Körperkultur sei die Kleidung der Nation.
Die Geschichte der olympischen Boykotte – auch die Schweiz hat 1956 und 1980 ein paar Kapitel geschrieben – soll hier nicht noch einmal nacherzählt werden. Die Kultur des staatlich geförderten und sonstigen Dopings auch nicht. Und nicht die Tragik von 1972 mit dem Attentat auf die israelische Delegation.
Bis in die 1980er Jahre hinein lebt die Heuchelei, Geld spiele keine Rolle: Der Amateurstatus verbietet es Sportlerinnen und Sportler offiziell, finanziellen Nutzen aus ihrem Olympischen Ruhm zu ziehen. Die grösste Heuchelei in der Kulturgeschichte des Sportes. Noch 1972 wird der österreichische Skikaiser Karl Schranz von den Spielen in Sapporo verbannt, weil er in einem T-Shirt mit einem Markenaufdruck ein Benefiz-Fussballspiel bestritten hat. Für Bernhard Russi wird der Weg frei zu ewigem Ruhm. Skilehrer bleiben lange Zeit von den Spielen ausgeschlossen: Weil sie mit ihrem Sport Geld verdienen, gelten sie als Profi.
Erst beim IOC-Kongress von 1981 unter Präsident Juan Antonio Samaranch wird der Amateurstatus gestrichen. Nun öffnen sich die Geldschleusen. Seither gibt es neben «schneller, höher, stärker» ein weiteres olympisches Motto: «Money talks – immer mehr und mehr und mehr Geld.»
Und neue Gipfelhöhen der Heuchelei werden erreicht. Auf die Frage, was der Sinn von Olympischen Spielen ohne Publikum in Tokio sei, sagte mir kürzlich ein hochrangiger IOC-General: «Es geht nur um die Athletinnen und Athleten und nicht ums Geld. Wir haben nämlich herausgefunden, dass etwa 70 Prozent aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Tokio zum ersten und wahrscheinlich einzigen Mal dabei sind. Wir können ihnen das olympische Erlebnis doch nicht verwehren! Wir müssen die Spiele durchführen!» Der ältere Herr hat immerhin so viel Sinn für Ironie, dass wir dann herzlich gelacht haben.
Tokio 2021 wird nur wegen des Geldes durchgeführt. Oder besser: durchgezwängt. Es geht um TV- und Werbegelder in Milliardenhöhe, die nicht fliessen, wenn die Spiele ausfallen.
Was aber, wenn diese Spiele ohne Publikum ein Erfolg werden? Es ist eine beängstigende Vorstellung, die Orson Welles wohl in seine Romane eingeflochten hätte.
Wenn es nämlich möglich ist, Olympische Spiele in völliger Sterilität nur fürs TV-Publikum durchzuführen, dann stellt sich die Frage: Wozu für Milliarden Infrastrukturen, Stadien, Arenen bauen? Wozu Tausende von freiwilligen Helferinnen und Helfern mobilisieren? Wozu überhaupt die Spiele immer wieder an anderen Orten austragen?
Es würde künftig genügen, an einem Ort Wettkampfstätten ohne Tribünen zu bauen – sozusagen ein potemkinsches Dorf des Sportes – und dort alle vier Jahre das globale Sportspektakel aufzuführen. Milliarden könnten eingespart werden. Bei gleich hohen TV- und Werbeeinahmen. Und Schummeleien wären viel einfacher: Die Welt sieht dann ja nur noch, was die Welt über TV-Kameras sehen darf. Wie eine Mondlandung, die in einem Hollywood-Studio inszeniert wird.
Mit Spielen ohne Publikum, mit Spielen ohne die Möglichkeit der Begegnungen und Gespräche, des Informations- und Gedankenaustausches, mit einer völligen Abschottung der Athleten, in einer Blase, die auch das olympische Dorfleben, das zwangslose Miteinander der Athletinnen und Athleten unmöglich macht, gibt es den oft zitierten olympische Geist nicht mehr.
Und wenn sterile, künstliche Olympische Spiele ohne Publikum (und die entsprechenden Emotionen), ohne den olympischen Geist ein kommerzieller Renner mit entsprechenden TV-Quoten werden – könnten dann künftig nicht auch andere Sportereignisse unter Ausschluss des Publikums inszeniert werden? Eigentlich sollten die Spiele von 2021 vom TV-Publikum weltweit boykottiert werden.
Aber auf Olympia bereiten sich Tausende Sportler jahrelang vor, für die meisten ist es der grösste Event ihres Lebens... Nur schon aus Respekt vor den Athleten schalte ich ein...