Er zählt nicht dazu. Nik Gugger, 51, EVP-Nationalrat und Sozialunternehmer aus Winterthur, gehört nicht zu den Wortführern unter der Bundeshauskuppel. Das würde bei ihm, dem Vertreter einer Kleinpartei mit nur drei Mandaten, auch niemand erwarten. Doch es gibt eine Disziplin, in der Gugger unschlagbar ist: Er ist ein Meister darin, politische Brücken zu bauen. Sein Werkzeug dafür sind Vorstösse.
Der EVP-Mann reicht solche nicht inflationär ein; manche Parlamentarier tun dies zwecks Selbstprofilierung, andere einfach zur Bewirtschaftung der Agenda. Wenn Gugger ein Anliegen portiert, stützt er dieses meist von Anfang an breit ab: Der Vertreter der Mittefraktion geht einen Schritt auf Ratskolleginnen und Ratskollegen zu – namentlich auf solche aus anderen politischen Lagern – und bittet um Sukkurs für sein Vorhaben. Ebenso unterstützt er gerne die Vorstösse anderer.
Denn: Ohne Zusammenarbeit geht’s nicht. Schliesslich ist die vielbeschworene Konkordanz ein Markenzeichen der Schweizer Politik, das Parlament quasi ihr Maschinenraum. Doch welche Nationalrätinnen und Nationalräte sind ganz konkret bereit, einen Schritt auf Vertreterinnen und Vertreter anderer Lager zuzugehen?
Eine Möglichkeit, dies herauszufinden, bieten die sogenannten Mitunterzeichnungen. Die Ratsmitglieder können ihre Vorstösse und parlamentarischen Initiativen, mit denen sie neue Gesetze sowie Auskünfte oder Berichte verlangen können, von anderen Ratsmitgliedern mitunterzeichnen lassen.
Je grösser die Zahl der Mitunterzeichnenden, desto grösser das politische Gewicht eines Vorstosses. Von einem «Indikator der Kompromissbereitschaft» sprechen die Berner Politologen Marc Bühlmann, Anja Heidelberger und David Zumbach in einem Fachaufsatz zum Thema. Sowohl das Ersuchen um Unterschriften als auch die Mitunterzeichnung selbst zeigten «eine grundsätzliche Bereitschaft, gemeinsam Lösungen zu suchen», halten sie fest.
Kein anderes Mitglied des Nationalrats ist dabei so erfolgreich wie Nik Gugger. Das zeigt der Brückenbauer-Index, eine erstmals durchgeführte Auswertung von CH Media. Zur Halbzeit dieser Legislatur hat die Bundeshausredaktion mit Hilfe von Datenspezialisten die Vorstösse ausgewertet, die seit Dezember 2019 von Mitgliedern des Nationalrats eingereicht worden sind. Eingeflossen sind fast 2900 Motionen, Postulate, Interpellationen, Anfragen sowie parlamentarische Initiativen. Sie verzeichnen über 17'300 Mitunterzeichnungen.
Für jedes Ratsmitglied wurde zum einen ausgewertet, wie erfolgreich es für seine Vorstösse bei anderen Ratsmitgliedern um Unterschriften ersucht hat. Und zum anderen, wie oft es selbst Vorstösse anderer mitunterzeichnet hat. In den beiden Kategorien wurden Punkte vergeben. Je weiter die Beteiligten jeweils politisch auseinanderliegen, desto mehr Punkte gab’s (Details siehe Box ganz unten).
Nationalrat Gugger führt die Liste mit 219 Punkten an. 120.5 Punkte erzielte er fürs «Ersuchen um Unterschriften», 98.5 für die «Mitunterzeichnung von Vorstössen». Wie der Zürcher im Ratsbetrieb arbeitet, zeigen einige seiner Vorstösse beispielhaft.
So organisierte Gugger für eine Motion eine breite Allianz, die einen besseren Schutz von Minderjährigen vor Pornografie verlangt. Zu den Mitunterzeichnenden zählen Grüne wie Regula Rytz, Albert Rösti aus der SVP oder FDP-Vertreter Christian Wasserfallen. Ähnlich ein Postulat, in dem es um die Stärkung der digitalen Kompetenzen in der Berufsbildung geht. Gleich 40 Ratsmitglieder von links bis rechts unterzeichneten den Vorstoss. Und Guggers Motion für «umweltverträgliche Zigarettenfilter» haben 32 Vertreter aller Couleur unterschrieben, Ökobewusste ebenso wie linke Präventionsförderer und rechte Suchtmittel-Skeptiker.
Es sind nicht die grossen Brocken, denen er sich annimmt. Aber die Eingaben von Nik Gugger sind wohldurchdacht. Schritt für Schritt baut er Allianzen. «Ein Vorstoss ist schnell eingereicht», sagt er. «Aber was bringt ein unüberlegter Schnellschuss?» Er selbst pflegt den Anspruch, Vorstösse einzureichen, die möglichst breit von links bis rechts getragen werden. Gugger sagt, er habe das Bild von «blockfreien Vorstössen» vor sich. Lösungsorientiert und ausbalanciert sollten sie sein, aber dennoch ein klares Ziel verfolgen. Um andere von seinen Ideen zu überzeugen, wendet er zuweilen viel Zeit auf; «vorwiegend von Angesicht zu Angesicht», das ist ihm wichtig.
Dass auf ihn seine Parteikollegin Marianne Streiff-Feller im Brückenbauer-Index folgt, ist kaum ein Zufall. Bei der «Mitunterzeichnung von Vorstössen» landet die Berner Nationalrätin mit 125 Punkten gar auf dem ersten Platz. Die EVP verfügt über ein einzigartiges Profil, das sie für unterschiedliche Lager anschlussfähig macht. In sozial- oder umweltpolitischen Fragen tickt sie links, in gesellschaftspolitischen konservativ.
Darüber hinaus finden sich im Brückenbauer-Index auch Nationalrätinnen und Nationalräte auf den Spitzenplätzen, denen der Ruf vorauseilt, gerne überparteilich zu agieren – ohne dabei von den Kernanliegen ihrer Fraktion abzuweichen. Dazu zählt die drittplatzierte Mitte-Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach. Sie steht für die typisch freiburgische Kultur des Interessenausgleichs und des Bilinguisme. Als gut vernetzt gilt der Berner Sozialdemokrat Matthias Aebischer (Platz 6), bei dem besonders seine 186 Mitunterzeichnungen anderer Vorstösse herausstechen. Selbst erzielt er Erfolge oft mit ideologisch unbestrittenen Lösungen. Nicht bei den grossen politischen Linien.
Aebischers Parteikollege Mathias Reynard (Platz 5) hat sich Ende Mai nach seiner Wahl in den Walliser Staatsrat aus Bern verabschiedet. Mit einer parlamentarischen Initiative, der eigentlichen Königsdisziplin, gelang ihm einst ein Bundesberner Kunststück: Damit stiess Reynard die Erweiterung der Anti-Rassismus-Strafnorm um die sexuelle Orientierung an. 54 Mitunterzeichnende unterstützten das ursprüngliche Anliegen, das schliesslich in einer Volksabstimmung durchkam.
Bemerkenswert ist der vierte Platz von SVP-Nationalrat Jean-Pierre Grin. Der Waadtländer positioniert sich damit weit vor seinen Fraktionskollegen. Der mit 73 Jahren älteste Parlamentarier gehört zum gemässigten, bäuerlichen Parteiflügel. Er besitzt eine gewisse Narrenfreiheit gegenüber seiner Fraktion.
In der Deutschschweiz kaum bekannt, gilt er in der Romandie als einer, der den Ausgleich sucht. Zuletzt lancierte er etwa eine Motion mit der Forderung, bei der zweiten Säule den Koordinationsabzug bei der Berechnung der Sparbeiträge auf dem Lohn abzuschaffen. Mitstreiter fand er in fünf Fraktionen.
Derweil ist FDP-Doyen Kurt Fluri (Platz 7) längst bekannt als Mann des parteiübergreifenden Kompromisses. Dies spiegelt sich in seinen Vorstössen. Der Solothurner reicht verhältnismässig wenige davon ein, stützt sie aber breit ab und ermöglicht selbiges mit seiner Unterschrift. Sogar Interpellationen, die durch eine simple Bundesratsantwort erledigt werden, verleiht Fluri zuweilen überparteilichen Nachdruck.
In der Tat sind Vorstösse nur ein Rädchen in der Mechanik des Bundesparlaments, um gemeinsame Lösungen zu finden. Viel Einfluss haben etwa die vorberatenden Kommissionen, die hinter verschlossenen Türen tagen. Hier werden die Merkmale grosser Vorlagen wie des AHV-Steuer-Deals oder der Zuwanderungsinitiative geprägt, hier wirken die Strippenzieher und Dealmaker. Von vornherein weniger Vorstösse werden im Ständerat eingereicht. Das Instrument hat in der kleinen Kammer, bekannt für ihre Kompromisskultur, nicht dieselbe Bedeutung.
Der Brückenbauer-Index konzentriert sich auf die Speerspitze im Nationalrat, nicht auf eine Gesamtrangliste. Schliesslich gibt es auch Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die mit Vorstössen wenig anfangen können. Legendär in dieser Hinsicht: der St.Galler Mitte-Nationalrat Markus Ritter. In den vergangenen zehn Jahren reichte er gerade einmal vier Vorstösse ein.
Als Bauernpräsident habe er ohnehin mehr als genug Präsenz, erklärte er dieser Zeitung einst. Immerhin setzte er in dieser Legislatur bereits 85 Mal seine Unterschrift unter den Vorstoss anderer Politiker.
Dass die reinen Zahlen nicht alles sind, zeigt sich bei der Schaffhauser SP-Nationalrätin Martina Munz. Sie hat in dieser Legislatur schon 427 Vorstösse mitunterzeichnet und 45 eigene eingereicht. Weil diese jedoch vornehmlich im linken Lager zirkulieren, landet Munz im Brückenbauer-Index trotzdem bloss auf Platz 15. (aargauerzeitung.ch)