Die Konservative Partei des britischen Premierministers Boris Johnson ist nach den Rücktritten zweier wichtiger Minister in Aufruhr. Bei den Tories herrsche «offener Krieg», kommentierte der Sender Sky News in der Nacht zum Mittwoch.
Am frühen Mittwochnachmittag folgte der nächste Schlag für Johnson: Gleich fünf Staatssekretärinnen und Staatssekretäre um die Gleichstellungsbeauftragte Kemi Badenoch traten zurück. Sie alle gelten als junge, aufstrebende Polittalente.
Doch trotz dieser scharfen Kritik aus den eigenen Reihen und insgesamt 28 Rücktritten von Parteifreunden will der britische Premierminister Boris Johnson im Amt bleiben.
Wie der Sender Sky News am Mittwochabend berichtete, hatte eine Delegation von Kabinettsmitgliedern Johnson im Regierungssitz 10 Downing Street besucht und dazu aufgefordert, sein Amt niederzulegen. Doch Johnson lehnte ab, denn andernfalls werde das Land ins Chaos gestürzt und die Konservativen bei der nächsten Parlamentswahl abgestraft, so Johnson den Berichten zufolge.
«Konservative Abgeordnete haben endgültig die Geduld mit ihrem Anführer verloren, der für die Wähler immer schneller zu einer verachtenswerten Figur wird», sagte der Politologe Mark Garnett von der Universität Lancaster der Deutschen Presse-Agentur in London.
Unter den Zurückgetretenen waren auch der stellvertretende Generalstaatsanwalt für England und Wales, Alex Chalk, sowie mehrere sogenannte Parliamentary Private Secretaries (PPS), die als «Augen und Ohren» der Ressortchefs im Parlament gelten. Die Regierungskrise war am Dienstagabend mit den Rücktritten von Gesundheitsminister Sajid Javid und Finanzminister Rishi Sunak ausgelöst worden. Bisher sind aber alle anderen Ressortchefs noch im Amt.
Finanzminister Rishi Sunak, der lange als möglicher Nachfolger Johnsons galt, und Gesundheitsminister Sajid Javid betonten in ihren Rücktrittsschreiben, sie hätten das Vertrauen in den Premier verloren. Und auch mehrere Abgeordnete legten Regierungsämter nieder – dabei handelt sich zwar nicht um entscheidende Posten, aber das Signal ist verheerend, wie Analysten betonten. Vor allem der Rücktritt von Jonathan Gullis, der bisher als ultra-loyaler Anhänger des Premiers galt, zeige, dass die Zeichen auf Sturm stünden.
Der wohl schlimmste Tag seiner Amtszeit könnte für Johnson bloss ein Auftakt zu mehr gewesen sein. Denn am Mittwoch musste sich der Premier mittags traditionell den Fragen der Abgeordneten im Unterhaus stellen – und am Nachmittag dem Liaison Committee, einem Parlamentsausschuss. Dabei überbieten sich die Mitglieder oft mit unangenehmen Fragen, sie «grillen» den Premier.
Und sie riefen dann auch mehrere konservative Parteifreunde Johnson bei der Fragestunde im Parlament am Mittwoch direkt oder indirekt zum Rücktritt auf. Die Stimmung auf den Bänken der Konservativen im Unterhaus – normalerweise wird der Premier dort mit lautstarken «Yeah, Yeah, Yeah»-Rufen angefeuert – war eisig. Teilweise herrschte Grabesstille. Ex-Gesundheitsminister Sajid Javid, der am Dienstagabend sein Amt niedergelegt hatte, rief weitere Kabinettsmitglieder auf, seinem Beispiel zu folgen.
«Die Aufgabe eines Premierministers in schwierigen Umständen, wenn er ein starkes Mandat hat, ist weiterzumachen. Und das ist, was ich tun werde», sagte Johnson am Mittwoch im Parlament in London auf die Frage eines Parteikollegen, ob er je erwäge, zurückzutreten. Ausgelöst hatte die Regierungskrise eine Affäre um Vorwürfe sexueller Übergriffe durch ein führendes Fraktionsmitglied.
Auf den Gängen des Parlaments wurde gemunkelt, dem Premier könne die Entscheidung bald abgenommen werden. Noch am Mittwoch sollte das einflussreiche 1922-Komitee tagen, in dessen Kompetenz es liegt, die Regeln für ein Misstrauensvotum gegen den Tory-Parteichef festzulegen.
Doch am im Verlaufe des Mittwochs hat das Komitee die Regeln nicht geändert. Das beudeutet, dass Johnson frühestens kommende Woche mit einem weiteren Misstrauensvotum rechnen muss. Vielmehr solle am Montag eine neue Komiteespitze gewählt werden. Da dann aber vermutlich parteiinterne Gegner von Johnson die Oberhand gewinnen dürften, wird anschliessend mit einer Regeländerung gerechnet.
Zwar hatte Johnson erst vor einem Monat eine Misstrauensabstimmung in seiner Fraktion knapp überstanden – und den bisherigen Regeln der Tory-Partei zufolge darf für die Dauer von zwölf Monaten nach der Abstimmung kein neuer Versuch unternommen werden – doch die Forderungen nach einer Änderung der Regeln wurden am Mittwoch deutlich lauter.
Johnson wäre nicht Johnson, wenn er klein beigeben würde. Schnell machte der 58-Jährige klar, dass er kämpfen werde.
Johnson ist für seinen politischen Überlebenswillen bekannt. Er hat bereits mehrere handfeste Skandale überstanden, zuletzt die «Partygate»-Affäre um illegale Lockdown-Feiern im Regierungssitz in der Downing Street. Selbst eine Geldstrafe, die ihn zum ersten amtierenden Premierminister machte, der erwiesenermassen das Gesetz brach, liess Johnson nicht stürzen.
Als letzter Tropfen erwies sich der jüngste Skandal um Johnsons Parteifreund Chris Pincher. Dabei geht es darum, ob der Premier von Vorwürfen gegen Pincher wegen sexueller Belästigung wusste, als er ihn im Februar in ein wichtiges Fraktionsamt hievte. Ja, musste Johnson schliesslich einräumen. Er entschuldigte sich – doch die Rücktrittswelle konnte er damit nicht aufhalten. Aus der Partei schlägt ihm sogar Hohn entgegen. «Ich kann nicht glauben, dass er von einem Sexskandal zu Fall gebracht wird, in den er nicht selbst verwickelt ist», zitierte die Zeitschrift «New Statesman» einen Tory. Der Premier soll mehrere aussereheliche Affären gehabt haben.
Trete Johnson jetzt zurück, inmitten einer schweren Wirtschaftskrise und angesichts drängender Fragen zu seiner persönlichen Integrität, werde er als einer der schlechtesten Regierungschefs der Geschichte gelten, sagte ein Experte. «Das macht es sehr unwahrscheinlich, dass er zurücktritt. Seine Partei wird ihn aus der Downing Street herauszerren müssen.» (sda/dpa)