Grossbritannien stürzt in eine Regierungskrise. Begleitet von scharfer Kritik an Premierminister Boris Johnson haben Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid ihre Ämter niedergelegt.
Johnson kämpft nun so stark wie nie zuvor um sein politisches Überleben.
Er habe das Vertrauen in den Regierungschef verloren, schrieb Javid in seinem am Dienstagabend veröffentlichten Rücktrittsschreiben. Unter Johnsons Führung werde die Konservative Partei von der Öffentlichkeit weder als wertegeleitet angesehen, noch diene sie dem nationalen Interesse. Auch nach dem parteiinternen Misstrauensvotum, das Johnson kürzlich knapp gewann, habe der Premier keinen Kurswandel eingeleitet. «Mir ist klar, dass sich diese Situation unter Ihrer Führung nicht ändern wird», schrieb Javid.
Finanzminister Sunak betonte, er sei immer loyal zu Johnson gewesen. «Aber die Öffentlichkeit erwartet zu Recht, dass die Regierung richtig, kompetent und ernsthaft handelt.» Der Sender Sky News zitierte ein namentlich nicht genanntes Regierungsmitglied, dass Johnson nun kaum noch im Amt zu halten sei.
Noch am Abend wurde bekannt, dass Johnsons Stabschef und enger Vertrauter Steve Barclay neuer Gesundheitsminister wird. Bildungsminister Nadhim Zahawi wechselt ins Finanzministerium.
Direkter Anlass für das Londoner Politbeben ist Johnsons Verhalten im jüngsten Skandal um sexuelle Belästigung durch ein führendes Fraktionsmitglied seiner Tory-Partei. Dass sich der Premierminister kurz vor den Rücktritten in der BBC entschuldigte und einräumte, die Berufung des Abgeordneten Chris Pincher zum sogenannten Vize-Whip sei ein Fehler gewesen, änderte nichts mehr an den Rücktritten – oder war für die beiden Minister sogar der letzte Tropfen. Die Whips – auf Deutsch wörtlich Peitschen – sollen für Fraktionsdisziplin sorgen.
Dabei lief die Reaktion wie so oft bei Johnson: Zunächst legte der Premier nahe, dass der Fall mit Pinchers Rücktritt abgeschlossen sei. Als der Protest lauter wurde, suspendierte die Tory-Fraktion den Abgeordneten doch. Schliesslich berichteten Medien über ältere, ähnliche Vorwürfe, von denen Johnson gewusst habe. Das stritt dessen Sprecher zunächst ab - um am Dienstag dann doch einzuräumen, der Premier sei bereits 2019 über Anschuldigungen gegen seinen konservativen Parteifreund informiert worden. Er habe dies nur vergessen. Er habe in dem Fall aber nicht gelogen, betonte Johnson in der BBC.
Für Mittwoch (16.00 Uhr MESZ) ist ein Auftritt Johnsons im Parlamentsausschuss geplant. Die traditionelle Befragung vor dem sogenannten Liaison Committee im Unterhaus ist einer der Höhepunkte des Jahres im britischen Parlament. Bei keiner anderen Gelegenheit hat der Regierungschef so wenig Möglichkeiten, unangenehmen Fragen auszuweichen. Das Ereignis wird daher auch als «grilling» bezeichnet.
Mit dem internen Misstrauensvotum hatte Johnson die «Partygate»-Affäre um illegale Lockdown-Feiern in der Downing Street hinter sich lassen wollen. Wegen der Teilnahme an einer der Partys hatte der Premier persönlich eine Geldstrafe zahlen müssen. Er blieb entgegen der Erwartungen auch innerparteilicher Kritiker dennoch im Amt.
Die Regierungskrise kommt zur Unzeit. Grossbritannien kämpft angesichts der immens gestiegenen Lebenshaltungskosten mit einer historischen Krise. Die Inflation ist so hoch wie seit rund 40 Jahren nicht mehr. An diesem Mittwoch senkt die Regierung die Sozialversicherung für Millionen Menschen mit kleineren Einkommen.
Zwar versicherten umgehend zahlreiche andere Kabinettsmitglieder wie Vizepremier und Justizminister Dominic Raab oder Aussenministerin Liz Truss dem Premier ihre Unterstützung. Zudem gilt Johnson als Stehaufmännchen, hat mehrere Skandale überlebt. Aber die Stimmung innerhalb seiner Konservativen Partei ist am Boden. Der Premier müsse zurücktreten, sagte ein Kabinettsmitglied dem Sender Sky News.
Die Opposition frohlockte. «Nach all dem Schmutz, den Skandalen und dem Versagen steht fest, dass diese Regierung jetzt zusammenbricht», sagte Labour-Parteichef Keir Starmer. Der Oppositionsführer rief weitere Kabinettsmitglieder auf, mit einem Rücktritt ein Zeichen gegen den «pathologischen Lügner» Johnson zu setzen.
Der Premier hat soeben erst einen Skandal überstanden, bei dem ihn viele Beobachter schon am Ende gewähnt hatten: Die «Partygate»-Affäre um illegale Lockdown-Feiern in der Downing Street. Wegen der Teilnahme an einer der Partys hatte der Premier persönlich eine Geldstrafe zahlen müssen. Er blieb entgegen der Erwartungen auch innerparteilicher Kritiker dennoch im Amt. Dabei half ihm nach Ansicht von Experten auch sein deutliches Eintreten für die Ukraine im Krieg gegen Russland. Nach den Parteiregeln darf es nun ein Jahr lang nicht zu einer weiteren Abstimmung kommen.
Dennoch könnte Johnson nach den Rücktritten von Sunak und Javid aus dem Amt getrieben werden. An diesem Mittwoch heisst es: Showtime! Planmässig muss sich Johnson einem Liaison Committee stellen, einem Parlamentsausschuss. Die Befragung ist traditionell ein Höhepunkt des Parlamentsjahres. Dabei überbieten sich die Mitglieder oft mit unangenehmen Fragen, sie «grillen» den Premier. Es wird Johnsons erste Schlacht beim nächsten Kampf um sein Amt.
(yam/sda/dpa)