International
Analyse

Weshalb es keine neue Terrorwelle geben wird

IS-Kämpfer halten ihre Waffen hoch und schwenken ihre Fahnen auf ihren Fahrzeugen in einem Konvoi auf einer Strasse, Ar-Raqqa, Syrien.
IS-Kämpfer halten ihre Waffen hoch und schwenken ihre Fahnen auf ihren Fahrzeugen in einem Konvoi auf einer Strasse, Ar-Raqqa, Syrien.Bild: keystone
Analyse

Weshalb es keine neue Terrorwelle geben wird

Der Anschlag in Kabul war abscheulich. Aber er ist nicht der Auftakt zu einer neuen Terrorwelle im Westen.
27.08.2021, 19:24
Mehr «International»

Die Bilder des Terroranschlages aus Kabul sind schrecklich, die Bilanz mit weit über 100 Toten schaurig. Zusammen mit dem chaotischen Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan weckt dies verständlicherweise die Angst vor einer neuen Terrorwelle auch im Westen. Afghanistan werde wieder zum Trainingscamp für fanatische Muslims, und diese fühlten sich durch den Sieg der Taliban bestärkt, so die Logik hinter dieser Angst. Sie führt auf eine falsche Fährte.

In der jüngsten Ausgabe von «Foreign Affairs» listet Thomas Hegghammer die Gründe auf, weshalb weder al Qaida noch IS die Möglichkeit haben, ein Ereignis wie 9/11 oder die Anschläge in Paris zu wiederholen. Hegghammer ist Senior Research Fellow am Norwegian Defence Research Establishment.

FILE - In this 1998 file photo made available on March 19, 2004, Osama bin Laden is seen at a news conference in Khost, Afghanistan. After 20 years America is ending its �??forever�?� war in Afghanist ...
Osama bin Laden war der charismatische Führer von al Qaida.Bild: keystone

Al Qaida ist in den 90er-Jahren entstanden. Veteranen aus dem Krieg gegen die sowjetische Armee und Freiwillige aus anderen Staaten, hauptsächlich Saudi-Arabien, liessen sich in Militärcamps im Hindukusch zu Gotteskriegern ausbilden. Ihr neuer Feind war die USA und ihr Chefideologe Osama bin Laden.

Der Sohn eines reichen Immobilien-Tycoons träumte von einer Renaissance Arabiens wie seinerzeit beim Propheten Mohammed. Voraussetzung dafür war, die Macht Amerikas zu brechen.

Der Anschlag auf das World Trade Centre am 11. September 2001 mit gegen 3000 Toten war der grösste Triumph von al Qaida. Weitere sollten Folgen: 2004 starben bei einem Anschlag auf einen Bahnhof in Madrid beinahe 200 Menschen. 56 Menschen wurden ein Jahr später bei mehreren Anschlägen auf die Londoner Untergrundbahn getötet.

Die Reaktion des Westens war heftig. US-Truppen marschierten in Afghanistan ein, zerstörten die Trainingscamps und vertrieben die Taliban. In Europa und den USA wurden massenhaft Analysten und Spezialisten für die Terrorbekämpfung angeheuert. In Amerika wurde gar ein neues Ministerium für innere Sicherheit gegründet.

Der Westen rüstete so massiv auf, dass Hegghammer heute konstatieren kann: «Für jeden Dollar in einem Geldschrank des IS sind mindestens 10’000 Dollar in der amerikanischen Notenbank deponiert. Für jeden Al-Qaida-Bombenbastler gibt es 1000 vom MIT ausgebildete Ingenieure.»

Am 2. Mai 2011 spürten US-Navy-Seals bin Laden in seinem Versteck in der pakistanischen Stadt Abbottabad auf und töteten ihn. Der Terrorchef war zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend isoliert. Seinem Nachfolger Ayman al-Zahwahri ist es niemals gelungen, in seine Fussstapfen zu treten. Al Qaida ist heute, wenn überhaupt, hauptsächlich in Afrika tätig.

Ein Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) mit einer Flagge. (Symbolbild)
Ein Kämpfer der Terrormiliz IS.Bild: AP Raqqa Media Center of the Isl

Auftritt IS: Der sogenannte Islamische Staat für den Irak und Syrien, abgekürzt ISIS oder nur IS, ist als Folge des Feldzuges der Amerikaner im Irak entstanden. Frustrierte Soldaten des ehemaligen Regimes von Saddam Hussein und fanatische islamistische Fundamentalisten fanden zusammen. Zuerst konnten sie die Wut der Sunniten auf die Regierung der Schiiten in Bagdad und die Arroganz der Amerikaner ausnutzen. Später gelang es ihnen, im Chaos des Bürgerkrieges in Syrien grosse Landstriche zu erobern und ein muslimisches Kalifat auszurufen.

Der IS versteht sich als globale Bewegung. Dank den neuen Plattformen der sozialen Medien und dem Smartphone konnte er anfänglich viele muslimische Secondos im Westen für seine Anliegen begeistern. 2014 begann der IS, seine Anhänger zu Attentaten in westlichen Städten aufzurufen. Mit Erfolg: Am 13. November 2015 starben in Paris nach mehreren Angriffen rund 100 Menschen. «Wir befinden uns im Krieg», erklärte darauf der französische Präsident François Hollande.

Zwischen 2015 und 2017 sind allein in Europa beinahe 350 Menschen den vom IS verübten Attentaten zum Opfer gefallen. Doch auch diesmal reagierte der Westen vehement – und mit Erfolg. Soziale Medien wie Facebook wurden nun überwacht, Smartphones abgehört, Hassprediger ausgewiesen und die Budgets zur Terrorbekämpfung massiv ausgeweitet.

epa09429709 A handout photo made available by the Republic of Korea Air Force shows some 380 Afghans who have worked for South Koreans in their war-ravaged nation and their family members boarding a S ...
Wollen raus: Afghanen, die für den Westen gearbeitet haben.Bild: keystone

Der IS hatte bald keine Chance mehr, sich in grösseren Gruppen zu organisieren. Nur noch «einsame Wölfe» sind heute überhaupt noch in der Lage, Attentate zu verüben. Sie müssen sich dabei auf Äxte und Messer verlassen. Die Chancen, als geordnete Terrorgruppe heute in einem westlichen Staat überleben zu können, beziffert Hegghammer als etwa so gross «wie das Überleben eines Schneeballs in der Hölle».

Wer an die 72 Jungfrauen im Himmel glaubt, der mag sich noch für einen Terroranschlag im Westen begeistern. Für alle anderen sind die Optionen düster geworden. «Du willst eine Organisation auf die Beine stellen und nicht nur eine Ein-Mann-Attacke verüben?», schreibt Hegghammer. «Wie willst du das anstellen? Alle deine Internet-Suchanfragen, E-Mails und Smartphone-Anrufe werden heute überwacht. (…) In einer von Kreditkarten dominierten Wirtschaft ist es fast unmöglich geworden, keine Spuren bei finanziellen Transaktionen zu hinterlassen. Sobald du dich in eine Stadt wagst, wirst du von Überwachungskameras erfasst. Und wem willst du vertrauen, wenn dein jüngster Rekrut ein Polizeispitzel ist?»

Ein bekanntes arabisches Sprichwort besagt: «Der Feind meines Feindes ist mein Freund.» Das hat Gründe. Die islamische Terrorszene ist alles andere als monolithisch. Al Qaida und IS waren sich nie richtig grün. Die Taliban und der IS sind geradezu Todfeinde. Dazwischen gibt es unendlich viele kleinere Rivalitäten. Wer es genauer wissen will, kann sich an das Buch «Chaos» des französischen Soziologen und Islam-Kenner Gilles Kepel halten.

Die Rivalität unter den Islamisten führt zu absurden Situationen. So sind die Anschläge in Kabul von einer IS-Splittergruppe verübt worden, der ISIS-K. Die Taliban jedoch helfen den Amerikaner, diese Terroristen zu jagen, denn sie sind nicht an einem globalen Dschihad interessiert.

Stattdessen wollen sie ein «Aghanistan first», wie der Islamwissenschaftler Behan Said in eine Interview mit dem «Tages-Anzeiger» ausführt. «Die afghanischen Taliban haben in erster Linie nationale Ziele», so Said. «Sie wollen in Afghanistan die uneingeschränkte Macht.»

Nicht eine neue Terrorwelle sollte uns daher heute Angst einjagen, auch wenn einzelne Attentate von «einsamen Wölfen» nach wie vor kaum zu verhindern sein werden. Die weit grössere Gefahr droht jedoch von den Massnahmen, die gegen den Terror ergriffen werden.

Der totale Überwachungsstaat ist kein Privileg der Chinesen mehr. «Die reichen Nationen von Europa und Nordamerika sind liberale Demokratien, ihre Regierungen sind jedoch auch extrem effiziente Unterdrückungs-Maschinen», so Hegghammer. «Die Instrumente, die ihnen zur Verfügung stehen, sind so mächtig wie noch nie. Deshalb sollten wir unsere Staatsoberhäupter sehr sorgfältig auswählen.»

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Die Taliban übernehmen die Macht in Afghanistan
1 / 18
Die Taliban übernehmen die Macht in Afghanistan
Am 15. August 2021 haben die Taliban ihr Ziel erreicht: Sie sind in der Hauptstadt Kabul einmarschiert und haben den Präsidentenpalast in ihrer Kontrolle.
quelle: keystone / zabi karimi
Auf Facebook teilenAuf X teilen
So dramatisch geht es derzeit in Afghanistan zu und her
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
43 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Blaumeisli
27.08.2021 20:14registriert Januar 2019
Na, dann hoffen wir mal, dass der Titel sich als wahrer herausstellen wird als die gefühlt hunderte Artikel über "warum Trump vor Ende seiner Amtszeit fallen wird" und ähnlich... sorry Löpfe 🙈
16510
Melden
Zum Kommentar
avatar
Walter Sahli
27.08.2021 20:58registriert März 2014
Von jetzt an wird einem traurigen Mafioso dieser Artikel von seinen Bandenmitgliedern vorgelesen, damit er was zu lachen hat, wenn er hört, mit welch unglaublicher Naivität Herr Löpfe beschreibt, wie fast unmöglich es ist, sich zu organisieren.
8410
Melden
Zum Kommentar
avatar
Drachenherz
27.08.2021 22:04registriert Juni 2019
Finde es überheblich, solche Meinungen aufgrund von spärlichen Analysen zu tätigen. Zum Vergleich von 9/11 hat es auch niemand vermutet. Und was bedeutet Welle? 3 Anschläge oder 7 Anschläge im Monat? Geografisch getrennt? Sicher ist, sicher ist man nie. Und jeder Anschlag ist einer zu viel. Doch solche zu verhindern wird auch bei einem extremen Überwachungsstaat nicht möglich sein.
325
Melden
Zum Kommentar
43
Chinesische Botschaft in Berlin weist Spionagevorwürfe zurück

Die chinesische Botschaft in Berlin hat sich nach der Festnahme von drei Deutschen wegen Spionageverdachts gegen Vorwürfe gewehrt, China spioniere mutmasslich in der Bundesrepublik. Die chinesische Seite weise dies entschieden zurück, meldete Chinas amtliche Nachrichtenagentur Xinhua in der Nacht zum Dienstag unter Berufung auf die diplomatische Vertretung:

Zur Story