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Rücktritt von Bondarew: «Schweiz muss ihm Asyl gewähren»

Nach Rücktritt von Top-Diplomat Bondarew: «Schweiz muss ihm Asyl gewähren»

Der russische Diplomat Boris Bondarew ist nach seinem Rücktritt in Sorge. Er fürchtet Konsequenzen aus Russland. Geht es nach SP-Politiker Fabian Molina, soll er nun hierzulande Asyl erhalten.
23.05.2022, 18:38
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Der Rücktritt des russischen Top-Diplomaten Boris Bondarew kam mit einem Paukenschlag und löste im diplomatischen Genf ein Erdbeben aus. Grund für die Unruhe war Bondarews langes Rücktrittsschreiben, das sich wie eine Abrechnung mit dem Kreml und dem russischen Krieg in der Ukraine liest. Darin heisst es etwa: «Ich habe mich noch nie so für mein Land geschämt wie am 24. Februar dieses Jahres.»

Sein Text war zunächst nur an rund 40 Diplomatinnen und Diplomaten verschickt worden. Er verbreitete sich jedoch innert Minuten wie ein Lauffeuer durch die diplomatischen Gänge in Genf, womit auch die Öffentlichkeit ziemlich schnell Wind davon bekam. Die Nichtregierungsorganisation «UN Watch» veröffentlichte den Text als erstes, ein Journalist der Nachrichtenagentur «Associated Press» erhielt von Bondarew eine Bestätigung für den Inhalt des Schreibens.

Der russische Botschafter bei der Uno in Genf, Boris Bondarew, ist von seinem Posten zurückgetreten. Er ist bislang der höchste russische Diplomat, der seit Beginn des Krieges seinen Job aufgegeben ha ...
Boris Bondarew will Genf nicht verlassen.Bild: facebook

Im Gespräch mit dem Journalisten äussert sich Bondarew auch zu möglichen Reaktionen vom Kreml: Er habe zwar noch nichts aus Moskau gehört. Selbstironisch sagt er jedoch gegenüber der Nachrichtenagentur: «Bin ich besorgt über eine mögliche Reaktion aus Moskau? Ich muss darüber besorgt sein.»

Bondarew will in der Schweiz bleiben

Bondarews Rücktritt löste auf dem internationalen Parkett grosse Bewunderung aus. Auch aus der Schweizer Politik sind bereits erste Reaktionen zu hören: «Sein Entscheid ist sehr mutig und darf nicht dazu führen, dass er in Gefahr gebracht wird», sagt etwa der Schweizer Aussenpolitiker und SP-Nationalrat Fabian Molina. Er fordert deshalb die offizielle Schweiz auf, ihm Asyl zu gewähren. «Der Grund der drohenden politischen Verfolgung ist gegeben, deshalb gebe ich einem solchen Gesuch gute Chancen», sagt Molina weiter.

Bondarew konnte für eine Stellungnahme nicht erreicht werden. Er erklärte aber gegenüber der «Associated Press», dass er Genf nicht verlassen wolle. Er äusserte sich auch zu einer möglichen strafrechtlichen Verfolgung in Russland, dies jedoch nur im Zusammenhang mit möglichen Nachahmern: «Wenn mein Fall strafrechtlich verfolgt wird, werden andere Leute nicht nachziehen.»

Roland Rino Buechel, SVP-SG, diskutiert mit Luzi Stamm, SVP-AG, und Fabian Molina, SP-ZH, von rechts, an der Wintersession der Eidgenoessischen Raete, am Montag, 3. Dezember 2018 im Nationalrat in Ber ...
Fabian Molina (links) zusammen mit SVP-Nationalrat Roland Rino Büchel (rechts).Bild: KEYSTONE

Molinas Ratskollege auf der bürgerlichen Seite, SVP-Nationalrat Roland Rino Büchel, äussert sich vorsichtiger: «Wenn die Gefahr einer politischen Verfolgung gegeben ist, dann kann es sein, dass Herr Bondarew Asyl braucht. Das entscheidet aber nicht die Politik, sondern ein sorgfältiges Asylverfahren mit den notwendigen Abklärungen.»

Büchel erklärt im Gespräch mit watson seine Vorsicht: «Man muss bei solchen Fällen, wo ein Diplomat eine 180-Grad-Wende macht, immer sehr genau hinschauen. Da wird sich auch der Nachrichtendienst des Bundes dazu äussern müssen. Ich gehe davon aus, dass Herr Bondarew dort bekannt ist. Daher sollte es nicht allzu lange dauern, bis eine Entscheidgrundlage vorliegt.»

Büchels Aussagen sind eine Anspielung an die Erkenntnisse des Nachrichtendiensts: 2019 sagte der frühere NDB-Chef Jean-Philippe Gaudin, dass etwa ein Drittel der russischen Diplomaten «Spione» seien. Im April 2022 erklärte das NDB: «Der NDB stellt seit Beginn des Ukraine-Kriegs keine Veränderung der Bedrohung durch verbotenen Nachrichtendienst in der Schweiz ausgehend von Russland fest.» Man verfolge «die Lageentwicklung in der Ukraine und allfällige Konsequenzen auf die Schweiz laufend und gemäss gesetzlichen Auftrags».

Das Rücktrittsschreiben in voller Länge:

Längst überfällig, aber heute trete ich aus dem öffentlichen Dienst aus. Genug ist genug.

In den zwanzig Jahren meiner diplomatischen Laufbahn habe ich verschiedene Wendungen unserer Aussenpolitik erlebt, aber noch nie habe ich mich so für mein Land geschämt wie am 24. Februar dieses Jahres.

Der von Putin entfesselte Angriffskrieg gegen die Ukraine, ja gegen die gesamte westliche Welt, ist nicht nur ein Verbrechen gegen das ukrainische Volk, sondern vielleicht auch das schwerste Verbrechen gegen das russische Volk … mit dem fettgedruckten Buchstaben Z wurden alle Hoffnungen und Aussichten auf eine blühende freie Gesellschaft in unserem Land durchgestrichen.

Diejenigen, die sich diesen Krieg ausgedacht haben, wollen nur eines – für immer an der Macht bleiben, in pompösen, geschmacklosen Palästen leben, auf Jachten segeln, die in Tonnage und Kosten mit der gesamten russischen Marine vergleichbar sind, und dabei unbegrenzte Macht und völlige Straffreiheit geniessen.

Um das zu erreichen, sind sie bereit, so viele Menschenleben zu opfern, wie es nötig ist. Tausende von Russen und Ukrainern sind dafür bereits gestorben.

Ich muss leider zugeben, dass in diesen zwanzig Jahren das Niveau der Lügen und der Unprofessionalität in der Arbeit des Aussenministeriums immer höher geworden ist. In den letzten Jahren ist dies jedoch schlichtweg katastrophal geworden. Statt unvoreingenommener Informationen, unparteiischer Analysen und nüchterner Prognosen gibt es Propaganda-Klischees im Geiste der sowjetischen Zeitungen der 1930er Jahre. Es ist ein System entstanden, das sich selbst betrügt.

Minister [Sergej] Lawrow ist ein gutes Beispiel für die Degradierung dieses Systems. Innerhalb von 18 Jahren wurde er von einem professionellen und gebildeten Intellektuellen, den viele meiner Kollegen so sehr schätzten, zu einer Person, die ständig widersprüchliche Erklärungen abgibt und der Welt (also auch Russland) mit Atomwaffen droht!

Heute geht es im Aussenministerium nicht um Diplomatie. Es geht nur um Kriegstreiberei, Lügen und Hass. Es dient den Interessen einiger weniger, der allerwenigsten Menschen und trägt damit zur weiteren Isolierung und Degradierung meines Landes bei.

Russland hat keine Verbündeten mehr, und niemand ist daran schuld, ausser die rücksichtslose und schlecht durchdachte Politik.

Ich habe eine Ausbildung zum Diplomaten gemacht und bin seit zwanzig Jahren Diplomat. Das Ministerium ist mein Zuhause und meine Familie geworden. Aber ich kann diese blutige, witzlose und absolut unnötige Schande einfach nicht mehr mittragen.
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35 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Hösch
23.05.2022 18:57registriert März 2022
Das ist ein Kündigungsschreiben welches in seiner Deutlichkeit keine Zweifel offen lässt.

Chapeau
2006
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Jürgen M.
23.05.2022 19:05registriert Dezember 2020
Es steht ausser Frage das dieser mutige Mann geschützt werden muss. Für mich ein klares ja zum Asyl!
18812
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Liebu
23.05.2022 19:31registriert Oktober 2020
Wenn man schon will, dass sich Russen dazu entschliessen ihrem Regime die Stirn zu bieten, darf man sie danach auch nicht hängen lassen.
Andernfalls lesen sich seine Worte als Abschiedsbrief.
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