Blogs
Yonnihof

What about Whataboutism?

Bild
Bild: shutterstock
Yonnihof

What about Whataboutism?

«Und was ist mit...» zerstört die Online-Diskussionskultur.
31.07.2015, 16:2731.07.2015, 16:31
Mehr «Blogs»
Bild

«Whataboutism». 

Was für ein Wort. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Politik. Geprägt wurde er in Zeiten des Kalten Krieges und er beschreibt die Taktik der Sowjetunion, bei Kritik an ihrer Politik mit «Und was ist mit...» zu antworten und im Anschluss auf die politischen Probleme des Westens zu lenken. 

Man tat das mit derartiger Vehemenz, dass bald Witze darüber auftauchten. Zum Beispiel dieser: In einer sowjetischen Radioshow geht’s um die miserable Wirtschaftslage von Fabrikarbeitern. Ein junger Mann ruft in die Sendung an und fragt: «Und was verdient der Durchschnitts-Fabrikarbeiter in den USA?» Eine lange Pause tritt ein. Danach der Moderator: «Da drüben lynchen sie Schwarze.»

Heute, mehr als 25 Jahre nach Ende des Kalten Kriegs, hat der Begriff Einzug ins Internet gehalten. Und wie. Die Kommentarspalten, unabhängig vom Thema, quellen davon beinahe über.

Geht’s um Rechtsextremismus, heisst’s «Und was ist mit den Linken??» Geht’s um Linksextremismus, heisst’s «Und was ist mit den Rechten??» Geht’s um Männer, kommt die Frage nach den Frauen. Geht’s um den ÖV, ruft man nach den Autofahrern. Geht’s ums Kiffen, fragt man nach den Alkoholikern. Missbrauch von Kindern durch katholische Priester? «Als ob der Islam besser wäre...»

Die Taktik hat sich seit dem Kalten Krieg wenig verändert. Man lenkt – manchmal mehr, manchmal weniger – subtil vom einen Problemfeld aufs andere.

Es gibt dabei heute hauptsächlich zwei Varianten: Die ursprüngliche, die, wenn man sich vom Geschriebenen ertappt oder angegriffen fühlt, auf die Probleme anderer, meist als Gegenpol Empfundener lenkt. Geht’s gegen die SVP, wird der SVPler nach einem Anti-SP-Artikel verlangen. 

Immer öfter taucht aber auch eine zweite Variante auf, nämlich die «Und was ist mit mir-Variante. Am auffälligsten empfinde ich das bei Genderdiskussionen. Beschäftigen sich die Medien mit dem einen Geschlecht und seinen Rechten, empört sich das andere unweigerlich in den Kommentarspalten darüber, dass man selber zu kurz komme. Es dünkt einen, als ob da eine Form von Angst besteht, vergessen zu gehen.

Es scheint, als könne man nicht mehr anerkennen, dass eine Sache einfach eine Sache ist, über die man berichten will. Eine Sache ist eine Sache ist eine Sache.

Natürlich stehen Probleme oft nicht komplett losgelöst von anderen.

Aber wenn man über den (Un-) Sinn der Militärpflicht für Männer berichten will, wirklich ausführlich und in der Tiefe berichten will, dann hat das z.B. mit der Lohnungleichheit nichts zu tun. Das in sich geschlossene Thema der Wehrpflicht ist innert Kürze nicht mehr Gegenstand der Diskussion, sondern der Kampf darum, welches Geschlecht nun ärmer dran ist.

Wenn man über linksextreme Ausschreitungen berichtet, nützt die Ablenkung auf die Rechtsextremen der Diskussion wenig bis nichts. Die erste Ausschreitung ist deshalb nicht gerechtfertigter als zuvor – und sie kann so zudem nicht ausführlich als eigenstehendes Ereignis diskutiert werden, weil am Ende einfach Links und Rechts aufeinander losgehen und die Debatte – einmal mehr – in «Hippie vs. Nazi» gipfelt. Two wrongs don’t make it right.

Dass man auf die genannten (Ablenkungs-) Probleme in einer weiteren Runde ebenfalls eingehen sollte, steht ausser Frage.

Der Whataboutismus in der Ursprungsdiskussion jedoch verhindert oder ersetzt eine konstruktive Debatte über das Ausgangsthema in den Kommentarspalten. Und so wird themenspezifische, differenzierte Meinung – einmal mehr – durch Gesinnung ersetzt. Und dies halte ich persönlich für eins der Kernprobleme der heutigen Online-Diskussionskultur.  

Yonni Meyer
Yonni Meyer (33) schreibt als Pony M. über ihre Alltagsbeobachtungen – direkt und scharfzüngig. Tausende Fans lesen mittlerweile jeden ihrer Beiträge. Bei watson schreibt die Reiterin ohne Pony – aber nicht weniger unverblümt. 

Pony M. auf Facebook

Yonni Meyer online

Kennst du schon die watson-App?

Über 100'000 Menschen nutzen bereits watson für die Hosentasche. Unsere App hat den «Best of Swiss Apps»-Award gewonnen und wird von Apple als «Beste Apps 2014» gelistet. Willst auch du mit watson auf frische Weise informiert sein? Hol dir jetzt die kostenlose App für iPhone/iPad und Android.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
11 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Lionqueen
31.07.2015 18:14registriert Juni 2015
Und was ist jetzt mit gratis Eiscreme für alle?
772
Melden
Zum Kommentar
avatar
goschi
31.07.2015 17:28registriert Januar 2014
Danke!
Danke vielmals dafür!

Das ist leider eine unglaublich nervige Unsitte, die wirklich viele Diskussionen sofort zerstört.
541
Melden
Zum Kommentar
avatar
Zeit_Genosse
02.08.2015 00:51registriert Februar 2014
Eine Unsitte. Jedoch wirkungsvoll. Ablenkung. Aufmerksamkeitssteuerung. Noch übler finde ich wenn Politiker auf klar gestellte Fragen eine auf ein anderes Thema beziehende Antwort bewusst platzieren. Oder in medialen Diskussionsrunden einfach eine Behauptung in den Raum stellen, die das Gegenüber dann entkräften muss und so seine Message nicht setzen kann. Manipulative Kommunikation.
231
Melden
Zum Kommentar
11
Poltergeister spuken nicht nur in Schlössern, sondern auch in Köpfen
Die Esoterikszene hat den Glauben an umherirrende Geister von Verstorbenen salonfähig und zu einem Business-Zweig gemacht.

Der Tod setzt viele Ängste und Fantasien frei. So viele wie kaum ein anderes Phänomen im Leben von uns Menschen. Wir wissen, dass unser Dasein begrenzt ist und abrupt enden kann.

Zur Story