Es war alles angerichtet für den grossen Moment am Sonntagabend. Schweiz gegen Italien, WM-Qualifikation, mehr als 30’000 Fans in Basel, in seiner Heimat – der perfekte Rahmen für das Jubiläum: Granit Xhaka hätte sein 100. Länderspiel absolviert. Zwei Monate nachdem er mit der Nati an der EM die Herzen der Schweizer erobert hatte.
Und nun ist plötzlich alles anders. Kein Jubiläum. Kein Applaus. Keine Vorfreude. Nur Ungläubigkeit. Die Schweiz spricht nicht über Xhaka den Jubilar, sondern über Xhaka den Impfverweigerer.
Nach dem positiven Test am Mittwoch folgt gestern mittels zweitem PCR-Test die Bestätigung: Granit Xhaka ist an Corona erkrankt. Damit ist definitiv klar: Der 28-Jährige verpasst die WM-Qualispiele am Sonntag gegen Italien und am Mittwoch in Nordirland.
Die Tragweite von Xhakas fehlender Impfbereitschaft ist erheblich. Einerseits muss die Nati in wichtigen Partien auf ihren Chef verzichten. Andererseits ist die zu tiefe Impfquote gerade das dringendste Problem in der Schweiz – da wirft das Verhalten des Nati-Captains Fragen auf.
Ist er sich seiner Vorbildfunktion und Strahlkraft bewusst? Liess er sich nicht impfen, weil bisher der Zeitpunkt nicht passte oder verzichtet er ganz bewusst darauf? Und: Würde er im Rückblick anders handeln?
Bis gestern hat Xhaka noch keine Erklärung abgegeben. Er wäre gut beraten, die Chance bald zu ergreifen. Und im besten Fall seine Einsicht zu verkünden, wie wichtig die Impfung für die Gesellschaft ist. Noch am Montag war Xhaka beim ersten Nati-Training unter Murat Yakin dabei. Er posierte lachend mit Fans für Fotos, er schrieb Autogramme. Seine Popularität war augenfällig, wie schon als die Nati nach dem EM-Viertelfinal am Flughafen empfangen wurde und er mit Vladimir Petkovic in die Menge strahlte.
Petkovics Nachfolger Yakin hätte sich gewiss einen anderen Start in seine Ära gewünscht. Nun kommt er nicht darum herum, nach dem 2:1-Sieg in seinem ersten Spiel gegen Griechenland, Xhaka zu verteidigen – so gut es eben geht. Yakin sagt:
Es hat nicht lange gedauert, bis auch Yakin merken musste, wie gross das Flair seines Captains ist, sich in Nesseln zu setzen. Und es werden Erinnerungen an die EM wach. Kurz vor Turnierstart erhielten die Nationalspieler ein Wochenende frei, um noch einmal den Kopf zu lüften. Trainer Vladimir Petkovic forderte explizit, die Zeit nur im Kreis der Familie zu verbringen. Xhaka liess sich ein Tattoo stechen und posierte damit in den sozialen Medien.
Dann, nach dem ersten EM-Spiel, einem 1:1 gegen Wales, orchestrierte Xhaka zusammen mit Manuel Akanji, dass ein Coiffeur ins Nati-Camp nach Rom eingeflogen wird. Er nahm damit eine Debatte in Kauf, die sich über Tage hinzog. Die Episoden legten nahe, dass Xhaka nicht wirklich aus den Vorkommnissen der Doppel-Adler-Affäre während der WM 2018 in Russland gelernt hatte.
Die Frage ist auch, was er damit bei seinen Teamkollegen auslöst. Akzeptieren sie, dass ihr Captain mit seinen Flausen immer wieder Kopfschütteln auslöst? Oder tun sich irgendwann Gräben in der Mannschaft auf? Die Tendenz lautet: Solange Xhaka auf dem Feld so auftritt, wie er das im entscheidenden EM-Gruppenspiel gegen die Türkei (3:1) oder im EM-Achtelfinal gegen Frankreich (8:7-Sieg nach Penaltyschiessen) tat, bleibt sein Standing unangefochten.
Granit Xhaka war noch nicht einmal 18 Jahre alt, als er in der Super League beim FC Basel debütierte. Dafür war er bereits Teil des Schweizer U17-Nationalteams, das Weltmeister wurde. Er hat sich nie gescheut, grosse Ziele anzusprechen. Es ist eine Art, an die sich die Schweiz erst gewöhnen musste. Als er mit 19 Jahren zu Borussia Mönchengladbach wechselte, dauerte es nur wenige Wochen, bis er wegen seiner markigen Worte für Irritationen sorgte.
Aber Xhaka biss sich durch. Er übernahm Verantwortung, er rannte sich die Lunge aus dem Leib – und wurde ein überragender Bundesliga-Spieler. Er eroberte die Herzen im Sturm. Und fand auch sein privates Glück. Er verliebte sich in Leonita Lekaj, die damals am Empfang von Borussia Mönchengladbach arbeitete. Die Beiden sind längst verheiratet, haben zwei Töchter.
Im Sommer 2016 folgte der Abschied aus Deutschland. Ein Fan-Magazin schrieb Xhaka eine Lobeshymne voller Pathos und schloss: «Und jetzt hau ab, du geile Sau!» Die Frage war nun: Wird Xhaka der erste echte Schweizer Weltstar? Talent und Hartnäckigkeit hatte er.
Fünf Jahre später ist Xhaka immer noch bei Arsenal. Aber die Bilanz hat auch etwas Ernüchterndes: In den Schlagzeilen ist Xhaka häufig dann, wenn es nicht gut läuft. Wenn er – wie am vergangenen Wochenende – wieder einmal mit einer roten Karte vom Platz gestellt wird. Oder wenn er – wie im Herbst 2019 – als Captain von den eigenen Fans ausgepfiffen wird. Die zahlreichen Kritiker haben sich schnell auf Xhaka eingeschossen und es scheint, als wäre er stets auf Bewährung.
Es sind Dinge, die Xhaka näher gehen, als man meinen könnte. Im persönlichen Gespräch dringt ein sensibler Mensch durch. Einer, der durchaus reflektierte Ansichten trägt. Umso irritierender ist es, dass er nun auffällt als Nati-Captain, der sich nicht impfen lässt.