Die mächtigen, bösen, königlichen Berner, die seit 2010 auf dem Königsthron sitzen, drohen beim Eidgenössischen Schwingfest zu fallen wie Knechte. Ihre grösste, ja, ihre letzte Hoffnung ist Christian Stucki. Möge der Riese mit dem weichen Herzen seine Kraft entfalten, stehen bleiben und uns vor einer Demütigung bewahren.
Es ist schon berührend, dass im Wettstreit der Bösen die Berner auf ihren freundlichsten Mann angewiesen sind (im Schwingen steht die Bezeichnung «böse» für «gut»). Stuckis Lehrer Hansjörg Wegmüller (7. bis 9. Klasse) hat einmal gesagt: «Christian überragte alle anderen um mehrere Kopflängen. Er war aber sehr rücksichtsvoll mit allen Mitschülern. Auch bei Ballspielen. Oft verzichtete er auf den eigenen Vorteil. Sowieso war er gegenüber Kleineren und Schwächeren immer hilfsbereit. Er hob die Kleinen sogar auf eine Mauer, damit er mit ihnen auf Augenhöhe diskutieren konnte.»
So, wie er als Schüler war, ist er heute noch, mit 34 Jahren und als Titan mit 198 Zentimeter Grösse und mindestens 140 Kilo Gewicht. Dass ihm viele nicht zutrauen, König zu werden, hängt mit dieser Wesensart zusammen.
Es ist unmöglich, diesen Mann nicht zu mögen. Stucki ist der König der Herzen. Der knorrige Ehrgeiz, von dem so mancher König besessen war, ist nicht seine Sache. Ja, seine Beliebtheit gründet nicht in einem Triumph. Sondern in einer Niederlage.
Es passiert am Eidgenössischen Schwingfest 2013 in Burgdorf. Matthias Sempach gewinnt den Schlussgang gegen Christian Stucki. Nur Sekunden nach der Niederlage, er liegt noch auf dem Rücken, umarmt der Verlierer den neuen König. So spontan und ehrlich hat wahrscheinlich noch nie ein Verlierer einem Sieger gratuliert. Christian Stucki hat eine vielleicht einmalige Chance verpasst, König zu werden. Und doch ist seine erste Reaktion die Umarmung seines Gegners. Die Gratulation.
Auf die Frage, ob er zu wenig ehrgeizig sei, um König zu werden, hat Stucki einmal gesagt: «Wir sollten Ehrgeiz nicht mit Egoismus verwechseln. Jeder Sportler ist ehrgeizig. Auch ich. Sonst würde ich ja den ganzen Trainingsaufwand nicht machen. Wenn ich nicht ehrgeizig wäre, hätte ich nicht mehr als 100 Kränze gewonnen. Ich denke aber, dass sich Ehrgeiz und die Anerkennung der Leistung des Gegners durchaus vereinbaren lassen.»
Kann Christian Stucki König werden? Gegen ihn spricht erstens, dass seit 1895 erst einer nach seinem 30. Geburtstag König geworden ist: 2016 der damals 31-jährige Matthias Glarner. Und zweitens, dass ein Schwinger, der einen eidgenössischen Schlussgang verloren hat, nie mehr den Thron bestiegen hat
Christian Stucki hat aber auch Vorzüge, die ins Gewicht fallen: So viel Masse und Gewicht bringt kein anderer in den Sägemehlring. Wobei er einmal ironisch eingeschränkt hat: «Mit meiner Grösse und meinem Gewicht habe ich einige Vorteile. Aber eben nicht nur. Zwar muss ein Gegner mein Gewicht erst einmal bewegen. Aber ich selbst muss mein Gewicht ebenfalls bewegen …»
Ein so grosser, schwerer Mann ermüdet eher als ein kleiner, flinker. Erst recht, wenn es heiss ist. Bei einem eintägigen Fest spielt das weniger eine Rolle. Aber beim Eidgenössischen mit acht Gängen an zwei Tagen wird es schwieriger.
Stucki hat zu diesem Problem einmal gesagt: «Natürlich stehe ich heute nicht mehr auf wie ein Engel. Es zwicken mich ein paar Bresten. Aber deshalb steht einer guten Leistung am zweiten Tag nichts im Wege. Dazu kommt, dass die Erfahrung aus grossen Festen auch viel hilft.»
An Erfahrung fehlt es Stucki wahrlich nicht. Er hat bei den eidgenössischen Festen von 2004, 2007, 2010, 2013 und 2016 den Kranz geholt und 2013 verlor er den Schlussgang. Er kann Eidgenössisches. Der erstaunlich flinke Riese bringt an einem guten Tag eine unbesiegbare Kombination aus Gewicht, Kraft, Wucht, Standfestigkeit, Explosivität, Technik und Beweglichkeit ins Sägemehl.
Ob ihm das auch am 24. und 25. August in Zug gelingt, hängt auch von einem «weichen Faktor» ab: Wenn es ihm läuft, dann läuft es und niemand hält ihn auf. Aber wenn ihm ein Gang misslingt, wenn ihm einer ständig aus den Griffen geht und es versteht, ihn zu zermürben, dann kann sein Selbstvertrauen zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Er ist der Unberechenbarste der Thronanwärter.