Herr Noth, bisher kamen die meisten Flüchtlinge über das Tessin in die Schweiz. Erwarten Sie nun auch an der Grenze in der Ostschweiz eine Zunahme?
Jürg Noth: Den Hauptdruck werden wir weiterhin im Tessin haben, mit bis zu 500 neuen Flüchtlingen pro Woche. Das sind vor allem Menschen aus Eritrea, Somalia und anderen afrikanischen Ländern. Hingegen kommen Syrer, Iraker, Afghanen und Pakistani primär über die Türkei und Griechenland. Wir sind darauf vorbereitet, wenn es auch in der Ostschweiz mehr werden.
Wie wahrscheinlich ist das?
Die Zunahme findet bereits statt: Die Zahl der rechtswidrigen Aufenthalter bei Buchs SG hat sich von 289 Personen im Juli auf 709 im August mehr als verdoppelt. Diejenigen, die über die Balkanroute in die Schweiz kommen, nehmen in der Regel den Zug nach Buchs. Das Problem ist, dass die österreichischen Grenzschutzbehörden in den Zügen kaum mehr Kontrollen durchführen können.
Die Österreicher lassen die Syrer und Iraker einfach nach Buchs weiterfahren?
Die Österreicher können höchstens noch punktuell kontrollieren, sie sind angesichts der grossen Flüchtlingszahlen personell am Limit. Sie sagen, sie könnten keine zusätzlichen Flüchtlinge mehr aufnehmen und haben Mühe, diese Mengen zu bewältigen und alle zu registrieren.
Gemäss Dublin-Abkommen müsste Österreich alle Asylsuchenden registrieren.
Ja. Die Folgen spürt vor allem Bayern, die werden von Zugspassagieren richtiggehend überschwemmt: Es sind oft 2000 bis 3000 Leute pro Woche. Deutschland erwartet dieses Jahr insgesamt 800 000 Asylbewerber, inzwischen hört man schon die Zahl von einer Million. Das ist auch für Deutschland enorm.
Man sah diese Woche Bilder aus Budapest mit Asylsuchenden, die «Germany, Germany» riefen. Warum wollen sie fast alle nach Deutschland und nur wenige in die Schweiz?
Nach Deutschland strömen zurzeit auch viele Asylsuchende aus dem Kosovo und aus Albanien. Sie können dort meist lange bleiben. In der Schweiz aber werden Gesuche aus solchen sicheren Ländern innerhalb von 48 Stunden erledigt. Es gibt kein Geld, keine Unterstützung und nur in seltenen Fällen Asyl. Das hat sich schnell herumgesprochen, es kommen aus diesen sicheren Ländern jetzt praktisch keine Asylsuchenden mehr in die Schweiz. Sie sind ja meist auch nicht Schutzbedürftige im Sinne der Konvention.
Im Gegensatz zu den Kosovaren erhalten Syrer aber auch bei uns Asyl. Trotzdem gehen die meisten nach Deutschland.
Die Flüchtlinge sind untereinander gut vernetzt. Sie geben sich Tipps, in welchen Ländern es welche Art von Unterstützung gibt. Deutschland bietet ihnen auch in finanzieller Hinsicht zurzeit am meisten, und dort wohnen schon viele Landsleute. Die Diaspora bietet Schutz und Heimat. Doch die Situation könnte sich schlagartig ändern, und das hätte unmittelbare Folgen für die Schweiz. Dann sind sehr grosse Gruppen auch an unserer Grenze möglich. Erlebt haben wir dies zu Beginn des Arabischen Frühlings, als sich in Lampedusa herumgesprochen hatte, dass es in Zürich Arbeit für Asylsuchende gebe. Dann wollten plötzlich alle nach Zürich. Das legte sich dann wieder, als Erste berichteten, wie die Situation wirklich war.
Wäre das Grenzwachtkorps für einen Ansturm an der Ostgrenze gerüstet?
Ja, wir sind bereit, wenn es eskaliert. Wir planen in Buchs und im Rheintal Verstärkungen. Zudem kommt uns entgegen, dass wir trotz des Beitritts der Schweiz zum Schengener Abkommen an der Grenze keine Infrastruktur abgebaut haben, da wir nach wie vor Zollkontrollen durchführen. So können wir auf Personal und Infrastruktur zurückgreifen – im Gegensatz zu anderen Ländern wie Österreich.
Ihr Korps umfasst insgesamt 2000 Mitarbeiter. Woher nehmen Sie die Verstärkungen?
Wir müssen anderswo Abstriche machen. Im Tessin können wir das nicht. Dort haben wir bereits zu wenig Kräfte. Es sind 310 Mitarbeiter, und weil das nicht reicht, ziehen wir wochenweise bis 25 Leute von der Nordgrenze ab, die im Tessin Verstärkungseinsätze leisten. Denn wir haben ja nicht nur Migrationsausgaben, sondern auch Zoll- und Sicherheitsaufgaben. Im Tessin ist die grenzüberschreitende Kriminalität gross.
Und jetzt gehen noch mehr Grenzwächter von der Nordgrenze weg – Richtung Ostschweiz?
Wir müssen Prioritäten setzen. Wir nehmen Steine aus dem Mauerwerk und verpflanzen sie anderswo hin, wo es grad dringender ist – aber diese Steine fehlen anderswo! Auch im Wallis gibt es enorm viel Arbeit. In Brig braucht es wegen der Züge aus Italien Verstärkung. Denn die Italiener registrieren nur etwa 10 Prozent der Flüchtlinge. Also müssen wir es tun. Die Leute, die über diese Route kommen, suchen meistens aber weder Asyl in der Schweiz noch in Frankreich, noch in Italien. Sie wollen nach Deutschland oder nach Schweden weiterreisen. Also kontrollieren wir sie und weisen sie nach Italien zurück. Das kann pro Zug, je nachdem wie viele Migrantinnen und Migranten wir feststellen, bis zu neun Stunden dauern!
Die Schweiz als Musterschülerin: Warum lassen Sie die Flüchtlinge nicht einfach nach Deutschland passieren?
Wir arbeiten zumindest mit Frankreich und Deutschland sehr gut zusammen, bis vor kurzem klappte es auch mit Österreich gut, und mit Italien stehen Verbesserungen in Aussicht. Diese Zusammenarbeit wollen wir nicht gefährden, indem wir uns den Regeln widersetzen. Zudem: Am Hauptbahnhof Zürich könnte es sonst zu Szenen wie diese Woche in Budapest kommen – Tausende Menschen, die stranden oder weiterreisen möchten. Das wollen wir nicht.
Sie verstärken im Tessin, im Wallis, im St.Galler Rheintal. Wird das Grenzwachtkorps insgesamt nicht aufgestockt?
Bewilligt sind vom Bundesrat immerhin 48 Zusatzstellen. Diese Leute werden wir auf zwei Jahre verteilt rekrutieren können, doch zuerst müssen wir sie ausbilden. Das dauert drei Jahre.
Sie bekommen 48 – wie viele bräuchten Sie effektiv?
Vor der grossen Migrationswelle beantragten wir dem Bundesrat 84 Stellen. Inzwischen sind es vielleicht 200 oder 300, die nötig wären. Aber selbst wenn wir sie bekämen, wäre das Problem nicht gelöst. Denn man muss die guten Leute erst noch finden. Die Arbeit ist anspruchsvoll und gerade der Umgang mit Flüchtlingen belastend. Ich habe meinen Kommandanten darum eingeschärft: Wir müssen Prioritäten setzen und können nicht mehr alle Aufgaben wahrnehmen, gerade auch im Bereich Zoll.
Das heisst, Einkaufstouristen, die zu viel importieren, werden nicht mehr kontrolliert?
Wir haben sicher nicht mehr die Möglichkeiten, zu schauen, ob einer zu viel Salami oder Grappa über die Grenze nimmt. Wir können nur noch die grossen Fische rausfischen.
Eine repräsentative Umfrage zeigt: 45 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer sind dafür, die Grenzen vorübergehend zu schliessen. Wäre das machbar?
Dafür bräuchten wir mindestens dreimal mehr Personal. Also rund 6000 Grenzwächter. Doch die Kontrollen hätten wohl ein Wirtschaftschaos zur Folge. Wir hätten im Süden Stau bis nach Mailand. Täglich passieren 750'000 Personen und 350'000 Autos die Landesgrenzen.
Politiker aus verschiedenen Lagern sagen: Das Schengen/Dublin-System ist gescheitert.
Ich sehe keine Alternativen. Das Abkommen ist für uns wichtig und gut. Wir können dadurch besser und gezielter kontrollieren, da wir länderübergreifende Systeme haben und Informationen austauschen. Das Migrationsproblem lässt sich nur international angehen. Aktuell haben wir zehn Schweizer Grenzwächter an den EU-Aussengrenzen im Einsatz. Wir haben auch an den Flughäfen Möglichkeiten für Kontrollen, die wirksam sind. Und der Sicherheitsfilter Grenzwachtkorps ist an der Grenze, im Grenzraum und im Bahnverkehr nach wie vor präsent. Im Rahmen von Zollkontrollen können wir bei polizeilichem Anfangsverdacht oder aus Gründen der Eigensicherung nach wie vor auch Personenkontrollen durchführen. Und wenn Sie unsere Statistiken anschauen: Die Aufgriffe nehmen tendenziell eher zu als ab.
Sie haben erwähnt, dass Italien nur 10 Prozent der Flüchtlinge registriert. Wie reagieren Sie auf diese Arbeitsverweigerung?
Die fehlende Registrierung ist das eine. Die Schwierigkeiten bei der Rückübernahme von Flüchtlingen das andere: Die italienischen Behörden sind meistens nicht da, wenn wir die Flüchtlinge, etwa diejenigen aus den Zügen in Chiasso, wieder den Italienern übergeben wollen. Diese haben einfach zu wenig Leute. Hilfreich wäre, wenn wir Schweizer Grenzwächter bis zum Bahnhof Mailand gehen könnten. Dort könnten wir das Übel an der Wurzel packen. Uns wurde von Italien in Aussicht gestellt, dass dies möglich sein werde. In den nächsten Wochen soll es darüber Verhandlungen in Rom geben. Zu erwähnen wäre auch die Rechtslage in Italien, die eine Entnahme von Fingerabdrücken bei Verweigerung ohne gerichtliche Anordnung nicht möglich macht. Das ist sehr aufwendig.
Italien ist auch im Kampf gegen Schlepper wichtig.
Absolut. Wir haben ja schon vor einem Jahr eine nationale Task-Force gegen Schlepper gegründet. Unterstützt werden wir dabei auch von einem deutschen Verbindungsoffizier, der in Kontakt mit der deutschen Staatsanwaltschaft steht – falls ein Schlepper in den Norden weiterreist, kann er gemäss deutschem Recht verurteilt werden. Mit Italien ist das schwieriger. Wir brauchen italienische Polizisten und Staatsanwälte in unserer Task-Force. Auch da gibt es aber Hoffnung, dass das möglich ist.
Stimmt es, dass Schlepper zunehmend brutal agieren?
Ja. Sie werden immer skrupelloser. Wir haben Hinweise, dass sie beispielsweise die Lieferwagen verschweissen, damit die Flüchtlinge nicht einfach aussteigen können, wenn der Wagen hält. Die Flüchtlinge sind den Menschenschmugglern komplett ausgeliefert. Mussten die Migranten früher den Betrag teilweise erst nach Ankunft an der Zieldestination bezahlen, verlangen die Schlepper heute das ganze Geld im Voraus. Die Not ist so gross, dass die Schlepper das schamlos ausnutzen. Die Bekämpfung der Schleusungskriminalität war seit je eines unserer Schwergewichte und unsere Leute sind so ausgerüstet und ausgebildet, dass sie auch brutalen Schleppern durchaus das Wasser reichen können – und auch mehr. Sie tragen alle Schutzbekleidung und ziehen gegen Schlepper notfalls auch die Waffe. Wir lassen gegenüber den Schleppern die Muskeln spielen. Beispielsweise sorgen wir mit Drohnen aus der Luft für Überraschungsmomente.
Wie viele Schlepper gingen Ihnen dieses Jahr ins Netz?
Bis Ende August griffen wir 260 auf – vergangenes Jahr waren es 384. Leider stagniert die Zahl etwas. Da will ich noch mehr haben. Die tieferen Zahlen, vor allem im Tessin, sind aber ein Indiz dafür, dass unsere verstärkten Kontrollmassnahmen gegen Schlepper gewirkt haben. Aber wie gesagt, wir möchten natürlich so viele wie möglich erwischen.
Was sind die Schlepper für Typen?
Die Schlepper haben oftmals die gleiche Nationalität wie die Flüchtlinge oder haben einen entsprechenden Migrationshintergrund. Doch meist leben sie schon länger in der Schweiz oder im nahen Ausland, besitzen eine entsprechende Aufenthaltsbewilligung und sind ortskundig. In diesem Jahr waren unter den aufgegriffenen Schleppern besonders viele Kosovaren, Eritreer, Somalier und Syrer.
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