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Interview

Experte zum Putschversuch: «Nächsten Stunden werden entscheidend sein»

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Ein Panzer der Söldnergruppe Wagner in Rostow: Die russische Millionenstadt ist unter Kontrolle der Soldaten von Jewgeni Prigoschin.Bild: keystone
Interview

Russland-Experte zum Putschversuch: «Die nächsten Stunden werden entscheidend sein»

«Russland steht an der Schwelle zum Bürgerkrieg», sagt der Politikanalyst Alexander Dubowy. Im Interview spricht er über die dramatische Lage in Russland und die Chancen von Wagner-Chef Prigoschin.
24.06.2023, 16:3624.06.2023, 16:40
Fabian Hock / ch media
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Es sind dramatische Stunden in Russland. Wie ist die Lage im Moment?
Alexander Dubowy:
Schon deutlich klarer als gestern, als man noch vermuten konnte, dass es sich um eine Inszenierung des Kremls handelt. Spätestens nach der Rede Wladimir Putins an diesem Samstag können wir mit Sicherheit sagen, es ist keine Inszenierung. Es handelt sich tatsächlich um einen Militärputsch.

Die Wagner-Gruppe von Jewgeni Prigoschin soll Rostow am Don kontrollieren. Ist das so?
Ja, das ist bestätigt. Seit den frühen Morgenstunden kontrolliert Wagner die Millionenstadt. Sie konnten ungehindert in Rostow einmarschieren und die wichtigsten Sicherheitsgebäude unter Kontrolle bringen, vor allem die Militärgebäude inklusive des Militärflughafens. Die Wagner-Gruppe verfügt über ganz herausragende Fähigkeiten, besonders im Städtekampf. Mittlerweile hört man, dass sie sich in Rostow festsetzt und von dort nach Moskau weiter will.​

epaselect epa10709014 A woman watches Russian President Vladimir Putin delivering a televised address to the nation in Moscow, Russia, 24 June 2023. Putin said counter-terrorism measures were enforced ...
Russlands Präsident Wladimir Putin verkündet während seiner Rede an die Russen Anti-Terror-Massnahmen.Bild: keystone

Wie wird der Kreml darauf reagieren?
Darauf darf man gespannt sein. Selbst ein Einsatz von Flugzeugen gegen eine russische Millionenstadt durch den Kreml ist nicht auszuschliessen.

Was will Prigoschin? Was sind seine Ziele?
Prigoschin will in erster Linie überleben. Er behauptet zwar, dass er gegen Korruption kämpft, aber in Wahrheit geht es um sein Überleben. Bis zum 1. Juli müssen sich alle Freiwilligenverbände in die russische Armee eingliedern und sich dem Verteidigungsministerium unterstellen. Ohne Ausnahmen.​

Das wäre das Ende von Wagner.
Zumindest das Ende von Wagner, wie wir es kennen. Aber sicher das Ende von Prigoschin. Wenn er sich nicht fügt, wäre auch sein Leben nicht mehr sicher.

Russland-Experte Alexander Dubowy.
Russland-Experte Alexander Dubowy.Bild: zvg

Seine Strategie ist also: Angriff ist die beste Verteidigung?
Ja, das ist nun seine Strategie. Wenn er überleben will, bleibt ihm keine andere Wahl als anzugreifen. Vor allem nach der Rede Putins sieht er keine andere Möglichkeit für sich. Vor dessen Rede konnte man noch darüber spekulieren, auf welche Seite sich Putin stellt, auf Prigoschins oder auf die Seite von Verteidigungsminister Schoigu. Jetzt ist es klar. Und Prigoschin ist zum Abschuss freigegeben. Er hat jetzt nur noch die Möglichkeit der Flucht nach vorne.

Das heisst, er wird jetzt wirklich versuchen, nach Moskau vorzudringen?
Auf jeden Fall. Er wird es sicher versuchen. Es ist das einzig Sinnvolle in seiner Situation. Wagner wird versuchen, schneller nach Moskau vorzudringen und einfach sehen wie weit sie kommen. Auf welchen Widerstand werden Sie stossen? Wie viele Unterstützer haben sie tatsächlich innerhalb des Militärs und innerhalb der Sicherheitsbehörden? Das wissen wir derzeit alles nicht.

Ist das Ganze eine spontane Aktion?
Wahrscheinlich ist, dass Prigoschin diesen Militärputsch schon länger und sehr genau geplant hat. In einigen Telegram-Kanälen wurde am Freitag schon geschrieben, dass Wagner-Soldaten sich bei ihren Angehörigen gemeldet und sich von ihnen verabschiedeten hätten - Stunden bevor Prigoschin überhaupt mit der Meldung rausgegangen ist, dass das Verteidigungsministerium Angriffe gegen Wagner-Stellungen gestartet hat. Das heisst, es ist alles schon längst vorbereitet. Das ist keine spontane Aktion gewesen. Und wir können wohl getrost davon ausgehen, dass Prigoschin mit einer gewissen Unterstützung sowohl innerhalb des Militärs als auch innerhalb anderer Sicherheitsbehörden inklusive des Inlandsgeheimdienstes rechnen kann.

Jewgeni Prigoschin: Er droht offen dem russischen Verteidigungsministerium.
Angriff auf Putin: Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin.Bild: Concord Press Office TASS/imago images

Wagner selbst hat etwa 25'000 Soldaten. Ist das richtig?
Ungefähr, ja. In Wahrheit etwas mehr, aber das ist die offizielle Zahl. Darüber hinaus sind noch viele Häftlinge in ihren Reihen.

Wie sehen die Kräfteverhältnisse aus? Wie viele Soldaten hat das russische Militär?
Putin verfügt über einige Hunderttausend Mann, die er einsetzen kann. Auch über Truppen, die dem Innenministerium unterstellt sind, etwa die Nationalgarde. Gegen die russischen Streitkräfte haben die 25'000 Wagner-Soldaten keine Chance.

Prigoschin braucht also Unterstützung. Wo könnte er die finden?
Das wissen wir noch nicht, aber das wird sich zeigen. Er rechnet weniger mit der Unterstützung der Eliten. Prigoschin gilt dort als Aussenseiter. Er ist ja eigentlich ein Krimineller, dann hat er ein Catering Business aufgebaut und später gelang es ihm, Kontakte zum Kreml aufzubauen und auch persönliche Verbindungen zu Putin zu knüpfen. Erst dann hat er das Angebot bekommen, eine private Söldnerarmee aufzubauen. Innerhalb der Elite hat er kaum Unterstützer. Womit er am ehesten rechnen kann, ist mit Unterstützung aus dem Mittelbau der russischen Armee und auch innerhalb gewisser Freiwilligengruppen.

Welche Rolle spielt der Geheimdienst?
Das lässt sich zum aktuellen Zeitpunkt überhaupt nicht sagen. Aber angesichts der Tatsache, dass Prigoschin diesen Schritt überhaupt gewagt hat, müssen wir davon ausgehen, dass er doch über gewisse Unterstützung verfügt. Wohl nicht in den höchsten Etagen, aber im Mittelbau. Sonst wäre es ein absolut selbstmörderisches Unterfangen.

Wie gefährlich wird es für Wladimir Putin?
Die nächsten Stunden werden entscheidend sein. Ich glaube aber, wir können eher davon ausgehen, dass Putin als Sieger aus diesem Konflikt hervorgehen wird. Er hat die gesamten Ressourcen. Er ist auch für die Eliten die wesentlich bessere Führungsfigur, unproblematischer als Prigoschin. Die wesentliche Frage ist, wie lange der Konflikt überhaupt andauert.

Kann Putin sogar gestärkt aus dieser Situation herauskommen, oder bleibt so oder so ein Schaden?
Es bleibt ein enormer Schaden für Putin, unabhängig vom Ausgang. Selbst wenn Wagner jetzt komplett vernichtet wird, wird ein extremer Schaden bleiben. Putin ist das Gewaltmonopol aus den Händen geglitten. Er hat unzählige Repressionsgesetze eingeführt über die letzten Monate. Und plötzlich entgleitet eine Person seiner Kontrolle, die zumindest eine Zeit lang direkten Kontakt zu ihm hatte und von der er ausgegangen ist, dass sie ihm persönlich loyal gegenüber steht. Das ist ein Schlag in die Magengrube von Putin. Und es ist ein enormer Ansehensverlust. Wir müssen auch sehen wie die Menschen reagieren, wenn russische Flugzeuge tatsächlich Rostow angreifen. Wir stehen an der Schwelle zu einem Bürgerkrieg in Russland. Die Frage ist, ob diese Schwelle tatsächlich überschritten wird. Vermutlich nicht, zumindest noch nicht. Der Ansehensverlust für Putin ist aber enorm. Und das wird sich mit Sicherheit auch sehr stark auf die Zukunft Russlands auswirken. Eine Auflösung des Landes ist auf lange Sicht nicht mehr auszuschliessen. Wir stehen jetzt an der Schwelle zu wirklich ganz herausragenden Ereignissen in Russland.

Was bedeutet das Ganze für die Ukraine?
Unmittelbar: nichts. Es ist natürlich ein Vorteil für die Ukraine, wenn es in Russland zu inneren Streitigkeiten kommt. Wir können aber das ganze Ausmass des Konfliktes in Russland nicht wissen. Die Angriffe gegen die Ukraine werden erstmal fortgesetzt, heute Nacht gab es wieder Angriffe auf die Hauptstadt Kiew. Das wird nicht aufhören. Das Allerwichtigste ist: Egal ob Putin oder Prigoschin, beide möchten diesen Krieg fortführen. Auch Prigoschin ist ein Kriegsverbrecher, ein Kriegstreiber. Er möchte kein Ende des Krieges.

(aargauerzeitung.ch)

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109 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Liebu
24.06.2023 16:54registriert Oktober 2020
Es bleibt ein enormer Schaden für Putin, unabhängig vom Ausgang. Selbst wenn Wagner jetzt komplett vernichtet wird, wird ein extremer Schaden bleiben

Vor allem wenn Wagner vernichtet wird. Ihm werden diese 25‘000 gut ausgebildeten Soldaten fehlen. Ebenso werden sicher noch reguläre Truppen und Material vernichtet.

Das gute daran ist, es kann beides nicht mehr in der Ukraine eingesetzt werden.
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Gluehwuermchen
24.06.2023 16:51registriert Dezember 2021
Ich sage nur dazu „die Geister, die ich rief“ - Der Zauberlehrling.
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Knut Knallmann
24.06.2023 17:15registriert Oktober 2015
Ganz egal wie das Machtspiel ausgeht, hoffe ich, dass die Ukraine das aktuelle Chaos zu ihrem Vorteil nutzen kann.
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