Frau Seneviratne, viele haben das Gefühl: Der Sommer ist vorbei und es regnet nur noch. Oder droht bald die nächste Hitzewelle?
Sonia Seneviratne: Sonnige Tage, wenn auch keine extrem heissen Tage, sind schon diese Woche erwartet. Bezüglich einer Hitzewelle später im Sommer: Verlässliche Wetterprognosen gibt es auch von MeteoSchweiz maximal für eine Woche bis zehn Tage. Es ist aber gut möglich, dass es im August nochmals zu einer Hitzewelle kommt.
Zuerst die Hitze Anfang Juli, nun die starken Niederschläge. Das ist doch einfach typisches Sommerwetter.
Es stimmt, dass es im Sommer in der Schweiz auch früher schon rasche Wechsel gab. Aber mit der fortschreitenden Klimaerwärmung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auf extreme Hitzeperioden auch sehr starke Niederschläge folgen.
Lässt sich das belegen?
Es ist nachgewiesen, dass Starkniederschläge im Vergleich zu früher intensiver und häufiger auftreten. In der Schweiz sind Starkniederschläge heute im Schnitt rund 12 Prozent intensiver und 26 Prozent häufiger als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Gleichzeitig erleben wir in kurzen Abständen immer mehr extrem heisse Tage. Starkniederschläge, Hitzewellen, Trockenereignisse: All das wird in Zukunft häufiger und extremer auftreten. Man sieht es bereits jetzt.
Woran?
Wir hatten eine Hitzewelle vor einigen Wochen im Juni. Und letzten Sommer gab es viele Überflutungen als Folge von Starkniederschlägen. Auch bei Murgängen können Starkniederschläge eine wichtige Rolle spielen.
Am Samstag kam es im Kanton Uri bereits zu einem Murgang, dieser wurde jedoch vor der viel befahrenen Axenstrasse von Schutznetzen aufgefangen. Reichen unsere Frühwarnsysteme langfristig oder ist das eher ein Notnagel?
Wenn man die langfristigen drohenden Entwicklungen betrachtet, sind das eher Notlösungen. Natürlich sind Frühwarnsysteme wichtig: Das hat man etwa beim Bergsturz in Blatten gesehen, wo sie eine rechtzeitige Evakuierung ermöglicht haben. Doch erst in Notstandsituationen zu reagieren, wird die Probleme nicht verhindern: Der Berg stürzt trotzdem. Die entscheidende Frage ist eine andere.
Welche?
Wie sinnvoll ist es, in Gebieten zu wohnen und zu bauen, die immer stärker gefährdet sind? Die Klimaerwärmung wird in den Alpen das Risiko für Steinschläge, Murgänge und Bergstürze weiter erhöhen. Das sollte in der Entwicklung solcher Regionen unbedingt berücksichtigt werden. Solange wir die CO₂-Emissionen nicht drastisch senken und die Klimaerwärmung nicht stabilisieren, werden sich solche tragischen Situationen kaum verhindern lassen.
Sie sehen es demnach als kritisch, dass die Bevölkerung von Blatten ihr Dorf am selben Ort wiederaufbauen möchte?
Das Wichtigste ist, dass wir die Bevölkerung nicht erneut einer solchen Gefahr aussetzen. Ein Wiederaufbau an einem Ort, an dem ähnliche Ereignisse mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder eintreten könnten, ist aus wissenschaftlicher Sicht schwer nachvollziehbar. Deshalb muss bei einem Wiederaufbau sehr genau berücksichtigt werden, ob sich eine solche Gefahr ausschliessen lässt. Es scheint nicht sinnvoll, Orte wiederzubesiedeln, die wir künftig erneut evakuieren müssen. Kein Frühwarnsystem und kein Netz wird den Berg zurückhalten, wenn sich das Klima weiter destabilisiert.
Was sollte die Schweiz konkret tun?
Der Verkehrssektor ist, ohne internationalen Flug- und Schiffsverkehr, für rund ein Drittel der CO₂-Emissionen verantwortlich. Hauptverursacher sind Benzinfahrzeuge. Wir müssten viel konsequenter auf Elektromobilität umstellen und den öffentlichen Verkehr massiv ausbauen. Weitere 22 Prozent der Emissionen stammen aus dem Gebäudesektor. Hier müssten fossile Heizsysteme zügig ersetzt werden. Und: Der Flugverkehr wird nach wie vor indirekt subventioniert, weil Kerosin nicht besteuert wird. Das hält die Ticketpreise künstlich tief.
Es wirkt oft so, als müsste immer die Durchschnittsbevölkerung sparen. Wäre es nicht sinnvoller, stärker bei der Industrie anzusetzen?
Die genannten Sektoren machen zusammen über 50 Prozent der Emissionen aus, aber natürlich müssen auch Industrie und Wirtschaft stärker einbezogen werden. Um die Bevölkerung zu entlasten, braucht es klare Anreize. Umweltfreundlichere Optionen müssen nicht nur verfügbar, sondern auch günstiger sein. Es wird viel über CO₂-Steuern gesprochen, aber entscheidend ist, dass solche Veränderungen sozial verträglich umgesetzt werden. Es braucht Investitionen in eine Infrastruktur, die langfristig nicht nur dem Klima, sondern auch der Bevölkerung zugutekommt.
Sie waren Hauptautorin des Sonderberichts des Weltklimarats von 2018 zur 1,5-Grad-Erwärmung, dem Limit, das im Pariser Abkommen gesetzt wurde. Was wäre aus Ihrer Sicht das Worst-Case-Szenario für die Schweiz im Jahr 2050, wenn dieses Ziel verfehlt wird?
Wir müssten uns in diesem Fall auf Sommer einstellen, die häufig zwischen extremen Hitzewellen und Starkniederschlägen hin- und herpendeln. Auch Trockenheitsgefahr und das Permafrostauftauen würden zunehmen. Solche extremen Verhältnisse können zusätzlich zu Waldbränden, landwirtschaftlichen Ausfällen, Überflutungen, Murgängen oder Bergstürzen führen – und können im Endeffekt auch viele Leben kosten.
Welche der Warnungen ihres Berichts von 2018 sind heute bereits eingetreten, und welche werden in der Schweiz noch immer ignoriert?
Wir haben bereits damals deutlich gemacht, dass extreme Hitzewellen und Starkniederschläge zunehmen werden. Genau das beobachten wir nun. Doch die Warnungen werden noch immer nicht ausreichend ernst genommen – nicht nur von Donald Trump nicht. Auch in der Schweiz erlebe ich, wie die Klimapolitik wieder an Dringlichkeit verliert. Die Emissionsziele werden nicht im nötigen Tempo umgesetzt. Das ist extrem gefährlich, denn wir befinden uns längst mitten in der Klimakrise.