Schweiz
Interview

ETH-Forscherin über das Schweizer Wetterchaos – und die wahren Ursachen

Sonia Isabelle Seneviratne, Professorin fuer Land-Klima-Dynamik am Intitute fuer Atmosphaere und Klima der ETH Zuerich, portraitiert am Mittwoch, 5. April 2023, auf dem Dach eines ETH-Gebaeudes mit ei ...
Fordert die Schweizer Politik zum Handeln auf: ETH-Forscherin Sonia Seneviratne. Bild: KEYSTONE
Interview

ETH-Forscherin über das Schweizer Wetterchaos – und die wahren Ursachen

Erst Hitze, dann Regenfluten. Die Schweiz schwankt von Extrem zu Extrem. ETH-Forscherin und Vorstandsmitglied des Weltklimarats Sonia Seneviratne erklärt, was dahintersteckt – und was jetzt droht.
29.07.2025, 05:1229.07.2025, 13:53
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Frau Seneviratne, viele haben das Gefühl: Der Sommer ist vorbei und es regnet nur noch. Oder droht bald die nächste Hitzewelle?
Sonia Seneviratne:
Sonnige Tage, wenn auch keine extrem heissen Tage, sind schon diese Woche erwartet. Bezüglich einer Hitzewelle später im Sommer: Verlässliche Wetterprognosen gibt es auch von MeteoSchweiz maximal für eine Woche bis zehn Tage. Es ist aber gut möglich, dass es im August nochmals zu einer Hitzewelle kommt.

Zuerst die Hitze Anfang Juli, nun die starken Niederschläge. Das ist doch einfach typisches Sommerwetter.
Es stimmt, dass es im Sommer in der Schweiz auch früher schon rasche Wechsel gab. Aber mit der fortschreitenden Klimaerwärmung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auf extreme Hitzeperioden auch sehr starke Niederschläge folgen.

Lässt sich das belegen?
Es ist nachgewiesen, dass Starkniederschläge im Vergleich zu früher intensiver und häufiger auftreten. In der Schweiz sind Starkniederschläge heute im Schnitt rund 12 Prozent intensiver und 26 Prozent häufiger als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Gleichzeitig erleben wir in kurzen Abständen immer mehr extrem heisse Tage. Starkniederschläge, Hitzewellen, Trockenereignisse: All das wird in Zukunft häufiger und extremer auftreten. Man sieht es bereits jetzt.

«Erst in der Not zu reagieren, wird die Probleme nicht verhindern.»

Woran?
Wir hatten eine Hitzewelle vor einigen Wochen im Juni. Und letzten Sommer gab es viele Überflutungen als Folge von Starkniederschlägen. Auch bei Murgängen können Starkniederschläge eine wichtige Rolle spielen.

Zur Person
Sonia Seneviratne ist Professorin für Land-Klima-Dynamik und leitet das Institut für Atmosphäre und Klima an der ETH Zürich. Sie wurde 1974 in Lausanne geboren, studierte Biologie und Umweltphysik an der Universität Lausanne und der ETH sowie am MIT. Sie hat Forschungsaufenthalte an der Nasa und der Universität Stanford durchgeführt. Seit 2016 ist sie ordentliche Professorin an der ETH. Seneviratne war Hauptautorin und Mitautorin bei diversen Berichten des Weltklimarats (IPCC). Seit 2023 ist sie Mitglied des IPCC-Vorstands.
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Vorstandsmitglied des Weltklimarats: Sonia Seneviratne. Bild: KEYSTONE

Am Samstag kam es im Kanton Uri bereits zu einem Murgang, dieser wurde jedoch vor der viel befahrenen Axenstrasse von Schutznetzen aufgefangen. Reichen unsere Frühwarnsysteme langfristig oder ist das eher ein Notnagel?
Wenn man die langfristigen drohenden Entwicklungen betrachtet, sind das eher Notlösungen. Natürlich sind Frühwarnsysteme wichtig: Das hat man etwa beim Bergsturz in Blatten gesehen, wo sie eine rechtzeitige Evakuierung ermöglicht haben. Doch erst in Notstandsituationen zu reagieren, wird die Probleme nicht verhindern: Der Berg stürzt trotzdem. Die entscheidende Frage ist eine andere.

«Kein Frühwarnsystem und kein Netz wird einen Berg zurückhalten, wenn sich das Klima weiter destabilisiert.»

Welche?
Wie sinnvoll ist es, in Gebieten zu wohnen und zu bauen, die immer stärker gefährdet sind? Die Klimaerwärmung wird in den Alpen das Risiko für Steinschläge, Murgänge und Bergstürze weiter erhöhen. Das sollte in der Entwicklung solcher Regionen unbedingt berücksichtigt werden. Solange wir die CO₂-Emissionen nicht drastisch senken und die Klimaerwärmung nicht stabilisieren, werden sich solche tragischen Situationen kaum verhindern lassen.

Sie sehen es demnach als kritisch, dass die Bevölkerung von Blatten ihr Dorf am selben Ort wiederaufbauen möchte?
Das Wichtigste ist, dass wir die Bevölkerung nicht erneut einer solchen Gefahr aussetzen. Ein Wiederaufbau an einem Ort, an dem ähnliche Ereignisse mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder eintreten könnten, ist aus wissenschaftlicher Sicht schwer nachvollziehbar. Deshalb muss bei einem Wiederaufbau sehr genau berücksichtigt werden, ob sich eine solche Gefahr ausschliessen lässt. Es scheint nicht sinnvoll, Orte wiederzubesiedeln, die wir künftig erneut evakuieren müssen. Kein Frühwarnsystem und kein Netz wird den Berg zurückhalten, wenn sich das Klima weiter destabilisiert.

Was sollte die Schweiz konkret tun?
Der Verkehrssektor ist, ohne internationalen Flug- und Schiffsverkehr, für rund ein Drittel der CO₂-Emissionen verantwortlich. Hauptverursacher sind Benzinfahrzeuge. Wir müssten viel konsequenter auf Elektromobilität umstellen und den öffentlichen Verkehr massiv ausbauen. Weitere 22 Prozent der Emissionen stammen aus dem Gebäudesektor. Hier müssten fossile Heizsysteme zügig ersetzt werden. Und: Der Flugverkehr wird nach wie vor indirekt subventioniert, weil Kerosin nicht besteuert wird. Das hält die Ticketpreise künstlich tief.

«Es ist extrem gefährlich, denn wir befinden uns längst mitten in der Klimakrise.»

Es wirkt oft so, als müsste immer die Durchschnittsbevölkerung sparen. Wäre es nicht sinnvoller, stärker bei der Industrie anzusetzen?
Die genannten Sektoren machen zusammen über 50 Prozent der Emissionen aus, aber natürlich müssen auch Industrie und Wirtschaft stärker einbezogen werden. Um die Bevölkerung zu entlasten, braucht es klare Anreize. Umweltfreundlichere Optionen müssen nicht nur verfügbar, sondern auch günstiger sein. Es wird viel über CO₂-Steuern gesprochen, aber entscheidend ist, dass solche Veränderungen sozial verträglich umgesetzt werden. Es braucht Investitionen in eine Infrastruktur, die langfristig nicht nur dem Klima, sondern auch der Bevölkerung zugutekommt.

Der Feiertags Reiseverkehr auf der Autobahn A-2 vor dem Gotthardtunnel zwischen Goeschenen und Erstfeld in Richtung sueden staut sich bei Erstfeld auf mehrere Kilometer laenge, am Mittwoch, 28. Mai 20 ...
Der Verkehr verursachte 2023 34 Prozent der Treibhausgase. Bild: keystone

Sie waren Hauptautorin des Sonderberichts des Weltklimarats von 2018 zur 1,5-Grad-Erwärmung, dem Limit, das im Pariser Abkommen gesetzt wurde. Was wäre aus Ihrer Sicht das Worst-Case-Szenario für die Schweiz im Jahr 2050, wenn dieses Ziel verfehlt wird?
Wir müssten uns in diesem Fall auf Sommer einstellen, die häufig zwischen extremen Hitzewellen und Starkniederschlägen hin- und herpendeln. Auch Trockenheitsgefahr und das Permafrostauftauen würden zunehmen. Solche extremen Verhältnisse können zusätzlich zu Waldbränden, landwirtschaftlichen Ausfällen, Überflutungen, Murgängen oder Bergstürzen führen – und können im Endeffekt auch viele Leben kosten.

Welche der Warnungen ihres Berichts von 2018 sind heute bereits eingetreten, und welche werden in der Schweiz noch immer ignoriert?
Wir haben bereits damals deutlich gemacht, dass extreme Hitzewellen und Starkniederschläge zunehmen werden. Genau das beobachten wir nun. Doch die Warnungen werden noch immer nicht ausreichend ernst genommen – nicht nur von Donald Trump nicht. Auch in der Schweiz erlebe ich, wie die Klimapolitik wieder an Dringlichkeit verliert. Die Emissionsziele werden nicht im nötigen Tempo umgesetzt. Das ist extrem gefährlich, denn wir befinden uns längst mitten in der Klimakrise.

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428 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Thom Mulder
29.07.2025 06:10registriert November 2014
Der primäre Treiber de Problems hier bei uns ist die Regierung. Praktisch keine Unterstützung für den Bau von Anlagen für alternative Energie und andere Energiesparmassnahmen. Lächerliche Einspeisevergütung. Kein Wunder sind wir das Schlusslicht bei alternativen Energien der Privathaushalte. Es liegt der Verdacht nahe dass man uns absichtlich in Abhängigkeit der abzockenden Stromlieferanten hält denn die manipulieren die Politik entsprechend.
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Kolleg_Essig
29.07.2025 06:05registriert Mai 2016
Es braucht endlich Steuern auf Kerosin. Fliegen ist definitiv zu billig. Okay. Aber so lange es sich lohnt, Lebensmittel während der Produktion durch Europa zu karren, läuft doch auch hier einiges schief. Und so lange der potentielle Käufer eines E-Autos nicht in der Tiefgarage seiner Mietwohnung laden kann, passiert auch hier genau nichts. Hätte, könnte, sollte reicht eben nicht. Schade.
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Mira Bond
29.07.2025 06:10registriert Oktober 2016
Eine wichtige Einordnung der aktuellen Wetterlage für all jene, die immer noch nicht den Unterschied zwischen Wetter und Klima hinkriegen. Und ich stimme ihr zu, dass ein Wiederaufbau von Blatten am gleichen Ort leider nicht sinnvoll ist, auch wenn es für die Betroffenen hart ist. Wir müssten diese Investitionen viel mehr für die Bekämpfung des Klimawandels einsetzen.
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