Sie ist jetzt vierzig und will nur noch mit ihren drei Hunden zuhause auf dem Sofa sitzen und Songs für andere Popstars schreiben. Rihanna zum Beispiel verdankt ihr die wundervollen «Diamonds» und Beyoncé «Pretty Hurts», das Klagelied einer Schönheitskönigin, und die offizielle Hymne der Fussball-WM «We Are One (Ole Ola)», die hat sie auch noch gleich mitgeschrieben. Sias Songs sind überall. Immer. Weltweit.
Im Juli erscheint ihr sechstes Album, aber auf Tournee geht sie damit nicht mehr. Und wenn sie trotzdem einmal in einer Show auftritt, wie letzte Woche bei Ellen de Generes, dann zeigt sie ihr Gesicht dem Publikum nicht mehr. Es ist eine so konsequente Art der Öffentlichkeitsverweigerung, wie man sie seit dem radikalen Rückzug einer Greta Garbo oder einer Marlene Dietrich aus dem Showgeschäft nicht mehr gesehen hat. Sie habe, sagt Sia, 13 Jahre auf diesen Moment hingearbeitet, auf diesen Zustand des Daheimseins.
Aber ihre Musik, die ist immer noch so weit wie Australien, wo sie herkommt, da werden Himmel aufgerissen, und die Seele legt sich bloss und legt sich hin auf Wellen aus schimmerndem Sand. Sias Stimme, das ist die golddurchwirkte Kaschmirdecke des Gegenwartspop und eine warmherzige, selbstverschwenderische, grössenwahnsinnige Verzweiflung.
Daran hat sich zumindest in den letzten zehn Jahren nichts verändert. Denn vor zehn Jahren spielte Sia in London das Album «Colour the Small One» ein. Auf dem Album befand sich ein epischer Song namens «Breathe Me», ein Liebeslied über ihren tödlich verunfallten Freund und die Drogensucht, der sie sich in der Folge sechs Jahre lang hingeben sollte. Am 21. August 2005 strahlte HBO die allerletzte Folge von der Bestatter-Serie «Six Feet Under» aus. Der legendäre, gut siebenminütige Zeitraffer zum Schluss, der das Ableben aller Serienfiguren in einer nahen Zukunft zeigte, wurde von «Breathe Me» begleitet.
Allein in Amerika stockte an jenem Abend über sechs Millionen Zuschauern der Atem: So zerbrechlich und gross konnte also die Vergänglichkeit klingen. Und im Verglühen von «Six Feet Under» loderte die Flamme der bisexuellen Musikertochter Sia Kate Isobelle Furler aus Adelaide hell auf. A star was born. Von heute aus gesehen war Sia damals Lana del Rey und Rihanna avant la lettre. Da war diese dekadente Melancholie der Melodien, das träumerische Schillern der Stimme.
Die Furchtlosigkeit gegenüber der musikarchitektonischen Prachtentfaltung, die kam in den kommenden Jahren dazu, die war etwa vor einem Jahr weltweit präsent, als Baz Luhrmans «The Great Gatsby» in die Kinos kam. Es war die Verfilmung des makellosesten amerikanischen Romans, der bisher geschrieben worden war, und Jay-Z produzierte dazu einen ebenso makellosen Soundtrack mit Stars wie Jack White, Fergie, The XX, Gotye oder André 3000. Aber hängen geblieben sind davon nur Lana del Reys «Young and Beautiful» und Sias «Kill and Run». Weil beide die Essenz des grossen Gatsby einfangen, diese Verunsicherung einsamer Herzen an schwülen Sommertagen, die irgendwann in einem Tod münden wird.
Aber den prächtigsten aller in Töne gefassten Kronleuchter, den hat Sia jetzt an die Decke von Gatsbys Villa gehängt: «Chandelier» heisst die Verheissung, und wer ihn sich nicht zehnmal (oder wenigstens dreimal) hintereinander anhören muss, der hat weder Herz noch Gehör. Denn «Chandelier» ist das Versailles aller gegenwärtigen Popsongs. Ein Ersaufen in Grandezza. Ein Flug, eine Hymne auf alle Pracht der Nacht, auf die Party, die Liebe, das Leben. Ein Geschenk. An das wir uns gnädig erinnern sollten, wenn wir demnächst nicht immerzu eins sein werden mit dem Soundtrack der Fussballbegeisterung.