Wir sind einen weiten Weg gegangen, seit vor mehr als 50 Millionen Jahren die Primaten entstanden. Aus den kleinen, vermutlich baumbewohnenden Säugern entstanden im Zuge der Evolution die heutigen Affen und damit auch wir Menschen (wir gehören zur Unterordnung der Trockennasenaffen). Einige körperliche Merkmale unserer Vorfahren haben wir allerdings beibehalten – obwohl wir sie gar nicht mehr gebrauchen. Hier sind zehn dieser biologischen Rudimente:
Manche Menschen haben am Aussenrand ihrer Ohrmuscheln einen Knorpelfortsatz, der – benannt nach Charles Darwin – Darwin-Ohrhöcker heisst. Darwin erkannte darin ein evolutionäres Überbleibsel einer früher spitzen Ohrform, wie sie viele Säugetiere aufweisen.
Bleiben wir noch beim Ohr: Die meisten Menschen können mangels Training ihre Ohren nicht willentlich bewegen, auch wenn es prinzipiell möglich wäre. Das liegt daran, dass wir diese Funktion nicht mehr benötigen – die Ohrmuskulatur (Musculi auriculares) ist ein evolutionäres Überbleibsel. Bei vielen Tieren hat die Bewegung der Ohren eine soziale Funktion, sie dient der Kommunikation. Manche nutzen die Ohren auch als eine Art Richtantenne, mit der sie die Herkunft eines Geräuschs besser orten können. Daneben gibt es noch weitere praktische Einsatzmöglichkeiten – so fächeln Elefanten mit ihren grossen Ohren, um sich abzukühlen.
Im inneren Augenwinkel, also auf der Seite der Nase, besitzen wir ein weiteres evolutionäres Rudiment: die Nickhaut. Diese Bindehautfalte, die oft auch als «drittes Augenlid» bezeichnet wird, erfüllt bei uns – wie übrigens bei fast allen Primaten – keine Funktion mehr und ist verkümmert. Dies ist bei vielen Wirbeltieren anders, beispielsweise bei Vögeln oder Reptilien, aber auch bei manchen Säugetieren wie Katzen. Bei vielen Arten ist sie transparent und schützt die Hornhaut wie eine Brille vor mechanischen Einflüssen; sie kann auch wie eine Art Scheibenwischer eingesetzt werden, um Fremdkörper zu entfernen.
Eigentlich haben Menschen 32 Zähne. Unsere Vorfahren hatten sogar 44 – aber sie hatten auch deutlich grössere Kiefer, die genügend Platz für die Kauwerkzeuge boten. Da die Menschheit aber seit langem über Techniken der Zerkleinerung und Zubereitung ihrer Nahrung verfügt, waren die vielen Backenzähne nicht mehr notwendig. Von den heute noch vorhandenen 32 Zähnen brechen zudem vier erst später – meist im Erwachsenenalter – durch das Zahnfleisch: die sogenannten Weisheitszähne oder dritten Molare. Oft fehlt aber der Platz für sie und sie müssen entfernt werden. Möglicherweise hat sich dieses Problem in moderner Zeit sogar verschärft, denn wegen der verbesserten Zahnhygiene verlieren wir nicht mehr schon früh Backenzähne. Früher schaffte der Zahnverlust Platz für die Nachzügler.
Put your hand flat on a surface and touch your pinky to your thumb. Do you see a raised band in your wrist? That there's a vestigial muscle called the palmaris longus. It used to help you move around the trees. About 14% of us don't even have this muscle anymore. (2/8)? pic.twitter.com/ZF3Ta91IGy
— Dorsa Amir (@DorsaAmir) 15. Januar 2019
Gehörst du zu den 10 bis 15 Prozent der Menschen, die keinen langen Hohlhandmuskel (Musculus palmaris longus) mehr haben? Ein kleiner Test verrät es dir: Leg deinen Arm mit der Handinnenfläche nach oben auf den Tisch und berühre dann mit dem Daumen den kleinen Finger. Zugleich hebst du den Handrücken leicht an. Wenn sich knapp unterhalb des Handgelenks ein schmaler Strang hervorhebt, hast du den Palmaris longus. Andernfalls nicht. Wenn du keinen hast, ist das aber kein Nachteil für dich, denn wir verbringen unser Leben nicht mehr hauptsächlich mit dem Herumklettern in Bäumen. Wer diesen Muskel noch besitzt, trägt ein evolutionäres Rudiment mit sich herum.
Aus der fernen Vergangenheit, als unsere Vorfahren sich meistens auf vier Beinen fortbewegten, oft auf Bäume kletterten und noch über ein Fell verfügten, stammt ein weiteres Rudiment: der Greifreflex bei Babys. Wie der Name schon sagt, handelt es sich nicht um ein Organ, sondern um ein Verhalten. Für Affenbabys ist der Greifreflex überlebenswichtig; sie müssen sich im Fell der Mutter festkrallen, während die sich von Ast zu Ast hangelt oder auf dem Boden auf allen vieren fortbewegt. Beim Menschen ist das obsolet – wir besitzen kein Fell mehr und gehen überdies aufrecht, sodass wir einen Säugling im Arm tragen können. Der Greifreflex bildet sich bereits etwa in der 32. Schwangerschaftswoche heraus. Das entspricht dem Zeitpunkt, zu dem Bonoboweibchen ihren Nachwuchs zur Welt bringen; von da an muss dieser sich festhalten können.
Wie gerade erwähnt besitzen wir kein Fell mehr – dieser augenfällige Unterschied zu unseren nächsten Verwandten hat den britischen Ethnologen Desmond Morris dazu inspiriert, seinem berühmtesten Werk den Titel «Der nackte Affe» zu geben. Zwar sind wir nach wie vor behaart, aber dabei handelt es sich nur um den Rest eines einst stattlichen Haarkleids, das eine wichtige Funktion erfüllte. Wir haben es nicht mehr, weil der Verlust uns die Temperaturregelung durch Schwitzen ermöglicht – Schimpansen können das nicht.
Mit dem Verlust des Fells wurde auch eine Funktion obsolet, die wir als «Gänsehaut» kennen. Bei Tieren, die ein Fell haben wie unsere Vorfahren, dient sie dazu, die Haare aufzurichten. Dies kann zwei verschiedenen Zwecken dienen: Zum einen schützt es vor Kälte, da auf diese Weise mehr Luft zwischen den Haaren gehalten wird, die eine isolierende Schicht bildet. Zum anderen erscheinen Tiere mit einem solcherart aufgerichteten Fell imposanter. Das kann potentielle Feinde oder Rivalen abschrecken. Auch wir besitzen die kleinen Muskeln (Musculi arrector pili) in den Haarbälgen der Haut noch, die das Haar aufrichten. Bei uns sind sie nutzlos geworden, weil unsere feinen Härchen weder vor Kälte schützen noch Feinde beeindrucken. Nach wie vor aber bekommen wir bei Kälte oder Angst eine Gänsehaut.
Normalerweise haben wir Menschen 12 Rippenpaare. Rund acht Prozent von uns besitzen aber wie Schimpansen oder Gorillas ein 13. Paar nach der untersten Rippe. Es hat keine Funktion. Sehr selten, bei weniger als einem Prozent aller Menschen, ist ein zusätzliches, rudimentäres Rippenpaar am 7. Halswirbel vorhanden. Halsrippen haben sich ansonsten bei den Säugetieren zurückgebildet und sind mit den Halswirbeln verschmolzen. Die stummelförmigen Halsrippen sind funktionslos und in aller Regel beschwerdefrei, selten können sie aber die Nerven des Armgeflechts oder die Blutzirkulation beeinträchtigen.
Welchem Zweck dienen die Brustwarzen beim Mann? Keinem. Streng genommen sind sie gar kein Rudiment, denn sie hatten beim männlichen Geschlecht ohnehin nie eine Funktion. Bei Männern sind die Brustwarzen ein Überbleibsel aus der Phase der fötalen Entwicklung. Wir alle fangen nämlich als Frau an – take that, male supremacists! Erst wenn das Sexualhormon Testosteron unter dem Einfluss des Y-Chromosoms seine Wirkung entfaltet, entwickelt sich der Fötus männlich weiter. Dann sind die Brustwarzen bereits angelegt. Männer können deshalb auch Brustkrebs bekommen. Die Brustwarzen entwickeln sich aus einer Milchleiste, aus der bei anderen Säugetieren Euter oder Zitzen hervorgehen. Beim Menschen bildet sie sich bis zur Geburt zurück – ausser in wenigen Fällen, in denen zusätzliche Brustwarzen übrig bleiben. Sie werden meist aus kosmetischen Gründen entfernt.
Früher betrachtete man auch den Wurmfortsatz des Blinddarms, die Gaumenmandeln und das Steissbein als evolutionäre Rudimente, die keinen Nutzen mehr haben.
Appendix vermiformis oder Wurmfortsatz wird ein Anhängsel des Blinddarms genannt, das einst grösser war und vermutlich dem Aufschluss von schwer verdaulicher Nahrung diente. Da der Wurmfortsatz diese ursprüngliche Funktion verloren hat und sich oft entzündet, galt er früher als überflüssig. 2007 hat aber eine Studie nachgewiesen, dass dieses Anhängsel die Abwehr fremder Stoffe im Körper unterstützt und zudem nützlichen Bakterien der Darmflora eine Art Unterschlupf bietet. Wenn eine Erkrankung diese winzigen Helfer dezimiert, kann ihre Population sich aus diesem Speicher wieder regenerieren. Der Wurmfortsatz wird deshalb heute als Teil des Immunsystems gesehen und gehört zu den lympathischen Organen.
Auch die Gaumenmandeln oder Tonsillen gelten oft als überflüssig; früher wurden sie oft ohne Not entfernt. Aber auch die Mandeln, die den sogenannten lympathischen Ring bilden, sind Teil des Immunsystems und dienen – besonders bei Kindern – der Abwehr von Krankheitserregern. In ihnen lernen weisse Blutkörperchen über die Nahrung aufgenommene Bakterien gewissermassen kennen. Heute gilt eine Entfernung der Mandeln erst dann als angezeigt, wenn es immer wieder zu eitrigen Entzündungen kommt oder sich ein Abszess gebildet hat.
Viele der mit uns verwandten Affen besitzen einen Schwanz, der ihnen hilft, sich auszubalancieren oder festzuhalten. Für uns ist diese Funktion nicht notwendig und der Schwanz, der bei der Fötalentwicklung entstanden ist, bildet sich bei uns noch im Mutterleib zurück. Übrig bleibt lediglich das Steissbein (Coccyx), das früher als unnötiges Rudiment galt. Doch ganz funktionslos ist das Steissbein nicht: Verschiedene Muskeln und Bänder im Unterleib setzen an diesen Wirbeln an.
(dhr)
"Wir alle fangen nämlich als Frau an – take that, male supremacists! Erst wenn das Sexualhormon (...) entwickelt sich der Fötus männlich weiter."
Wir fangen wohl alle als Frauen an, doch nur die besten "entwickeln sich" weiter (O-Ton Text) und erreichen das nexte Level ;-)
Netter kleiner Seitenhieb, aber "weiterentwickeln" war wohl in diesem Zusammenhanh eine unglückliche Wortwahl;-)
Wäre interessant zu wissen, ob der Hohlhandmuskel bei Kletterern weiter verbreitet ist als bei anderen Leuten.