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Warum Joe Biden kein neuer Jimmy Carter, sondern ein Staatsmann ist

epa09439350 US President Joe Biden delivers remarks on the end of the war in Afghanistan, in the State Dining Room of the White House, in Washington, DC, USA, 31 August 2021. The last military flight  ...
Präsident Joe Biden erklärt seinen Rückzug aus Afghanistan.Bild: keystone
Analyse

Warum Joe Biden kein neuer Jimmy Carter, sondern ein Staatsmann ist

Ex-Präsident Jimmy Carter gilt als Sinnbild amerikanischer Schwäche. Kein Wunder, wollen die Republikaner Biden zu einem zweiten Carter abstempeln.
01.09.2021, 14:4001.09.2021, 16:22
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Am 4. November 1979 stürmten iranische Studenten die US-Botschaft in Teheran und nahmen 52 Amerikaner in Geiselhaft. 444 Tage lang musste Washington zusehen, wie sie von den iranischen Geiselnehmern beschimpft und verspottet wurden. Am 24. April 1980 wollten amerikanische Spezialtruppen die Geiseln befreien. Das Unterfangen scheiterte, weil die Helikopter in einen Sandsturm gerieten und abstürzten.

Die Geiselnahme in Teheran und die missglückte Befreiungsaktion wurden bald zum Symbol für die Ohnmacht der Supermacht USA. Jimmy Carter, der damalige demokratische Präsident, wurde zum Sinnbild eines schwachen Führers. Folgerichtig verlor er im November 1980 die Wahl gegen Ronald Reagan.

FILE - In this Nov. 3, 2019, file photo, former President Jimmy Carter teaches Sunday school at Maranatha Baptist Church in Plains, Ga. Nearly a year into the pandemic, Carter and his wife have return ...
Sinnbild eines Losers: Ex-Präsident Jimmy Carter.Bild: keystone

Mehr als vier Jahrzehnte später wollen nun die Republikaner und die konservativen Medien Joe Biden zu einem neuen Jimmy Carter stempeln. Anlass dazu gibt ihnen der chaotische Rückzug der US-Truppen aus Afghanistan. Bei Fox News hat Sean Hannity bereits eine Art Geisel-Kalender für angebliche amerikanische Gefangene in Afghanistan eingerichtet. Zwischen 100 und 200 Amerikaner stecken noch im Hindukusch fest. Ob freiwillig oder nicht, ist unklar.

Joe Biden habe es nicht nur verpasst, alle Amerikaner rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, so der konservative Chor der Kritiker. Er habe mit seinem missglückten Abzug die USA vor aller Welt blossgestellt, die Schwäche der Supermacht aufgezeigt und die afghanischen Verbündeten verraten. China sei ermutigt worden, Taiwan zu überfallen, Russland sehe sich in seiner feindseligen Haltung gegenüber dem Westen bestärkt, und Afghanistan werde sich bald wieder zu einem Hort für muslimische Terroristen verwandeln.

Selbstverständlich heult Donald Trump im Kritiker-Chor kräftig mit. In einer Mitteilung verlangte er jüngst: «Alle militärischen Ausrüstungen müssen umgehend den Vereinigten Staaten zurückgegeben werden. Das gilt für den letzten Penny der 85 Milliarden Dollar, die wir für die afghanischen Truppen ausgegeben haben.»

Und natürlich ist das eine Lüge. Auch wenn die Amerikaner viele Waffen und Humvees im Hindukusch zurücklassen, ist die Zahl masslos übertrieben. Gemäss Berechnungen der «Washington Post» beträgt die Summe rund 24 Milliarden Dollar. Hi-Tech-Kriegsmaterial wie Jets und Helikopter ist zudem gemäss Angaben des Pentagons untauglich gemacht worden.

Taliban special force fighters stand guard outside the Hamid Karzai International Airport after the U.S. military's withdrawal, in Kabul, Afghanistan, Tuesday, Aug. 31, 2021. The Taliban were in  ...
Kaum wiederzuerkennen: Taliban in amerikanischer Ausrüstung.Bild: keystone

Angesicht der Bilder der letzten Tage – Menschen, die sich verzweifelt an startende Flugzeuge geklammert haben; Babys, die über Stachelzäune geworfen wurden – hat der Vergleich mit dem amerikanischen Desaster im Iran eine gewisse Glaubwürdigkeit. Doch schon ein Tag nachdem der letzte US-Soldat Kabul verlassen hat, scheint eine neue Sicht der Dinge am Horizont auf.

Bidens Prioritätenliste sieht wie folgt aus: Covid, Klima und China. Deshalb war Afghanistan für ihn stets eine sinnlose und sehr teure Ablenkung. Zudem war dieser Krieg erstens ohne eine erneute massive Aufstockung der Truppen nicht aufrechtzuerhalten – und zweitens bei den Amerikanern äusserst unbeliebt. Mehr als 70 Prozent von ihnen sprachen sich in Umfragen regelmässig für einen Rückzug der Soldaten aus.

Einen Krieg in Würde zu verlieren, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das war auch Biden bewusst. Den Vorwurf, überhastet und voreilig gehandelt zu haben, will er deshalb nicht gelten lassen: «Stellt euch vor, wir hätten mit den Evakuationen schon im Juni und Juli begonnen und 120’000 Menschen mitten in einem Bürgerkrieg herausgeflogen», erklärte er in seiner Rede vom Dienstag. «Es hätte trotzdem zu einem Chaos am Flughafen, zu einem Zusammenbruch des Vertrauens und zu einer äusserst gefährlichen Rettungsaktion geführt.»

In this image made through a night vision scope and provided by the U.S. Army, Maj. Gen. Chris Donahue, commander of the U.S. Army 82nd Airborne Division, XVIII Airborne Corps, prepares to board a C-1 ...
Als letzter US-Soldat verlässt Major General Chris Donahue Kabul.Bild: keystone

Die geopolitischen Folgen des Rückzugs aus Afghanistan sind wahrscheinlich zu verkraften. Weder China noch Russland dürften erpicht darauf sein, das Vakuum zu füllen, das die Amerikaner hinterlassen. Die Taliban ihrerseits haben ebenfalls gute Gründe, keine Wiederholung des «Afghanistan als Terror-Ausbildungslager»-Szenarios zuzulassen.

Sie müssen nun in einem der ärmsten Länder der Welt gegen 40 Millionen Menschen ernähren und ihnen Jobs verschaffen. Deshalb sind sie auf Hilfe von aussen angewiesen, auch auf amerikanische Hilfe. Die USA haben vorsorglich für Afghanistan bestimmte Hilfsgelder von rund neun Milliarden Dollar eingefroren, ein wichtiger Anreiz für die Taliban, Washington nicht zu reizen.

Biden spielt das «lange Spiel», wie sich Politologen ausdrücken. Er setzt darauf, dass die Bilder der letzten Wochen bald vergessen sein werden und die Amerikaner ihn als das sehen, was er ist: Ein Präsident, der sein Wahlkampfversprechen einhält und das tut, was seine Vorgänger nicht gewagt haben, nämlich den end- und sinnlosen Krieg in Afghanistan zu beenden. Kurz: Er handelt wie ein entschlossener Staatsmann, der auch eine stürmische Phase in Kauf nimmt, um seine gesteckten Ziele zu erreichen.

Dem lächerlichen Carter-Vergleich wird bald eine neue Sicht weichen. Der demokratische Senator Chris Murphy umschreibt sie wie folgt: «Afghanistan zu verlassen, ist vor allem ein Gewinn für das Land, aber auch ein politischer Trumpf für die Demokraten. Letztendlich wollen die Amerikaner, dass ihr Präsident ihre Interessen verfolgt, nicht diejenigen der Taliban.»

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65 Kommentare
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Max Dick
01.09.2021 16:22registriert Januar 2017
Eigentlich krass wie sehr Geschichtsschreibung und Biografien von einem einzigen Zufall geprägt werden. Wären die Helikopter zufällig nicht in diesen Sandsturm geraten und hätten es geschafft - Carter wäre der gefeierte Held gewesen. So aber das Poulet, obwohl er es kaum selbst war, der die Wetterkarte damals studiert hat.
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insert_brain_here
01.09.2021 15:21registriert Oktober 2019
Jimmy Carter ist ein grundanständiger bescheidener Mensch dessen einzige Absicht es war der bestmöglich Präsident für das amerikanische Volk zu sein. Fürwahr, Joe Biden ist kein Jimmy Carter.
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sirlurkalot
01.09.2021 15:49registriert April 2017
Das ist keine Analyse, dass ist einmal mehr Fanpost...

Biden hat nicht das getan, was "seine vorgänger nicht gewagt haben" und auch nicht ein von ihm gestecktes Ziel mit allen Konsequenzen verfolgt. Der Deal zum Abzug wurde unter Trump getätigt, und in dessen Rahmen entstand auch der Zeitplan. Natürlich befürwortet die Mehrheit der Amerikaner den Abzug aus Afghanistan an sich. Aber nicht so.
Seien wir ehrlich, wäre das selbe unter Trump passiert, Löpfe hätte ihn hier mit Schimpf und Schande übergossen. Und das zurecht.
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