Ein 36-jähriger Kosovare steht vor dem Solothurner Obergericht und bittet um eine letzte Chance. Er ist mit acht Jahren in die Schweiz gekommen und hat seit der Pubertät immer wieder Raubüberfälle, Einbrüche und Drogendelikte begangen. Deshalb wurde er ausgeschafft.
Doch die Schweiz gewährte ihm ein Besuchsrecht, damit er den Kontakt zu seiner Freundin und seinen drei Kindern aufrechterhalten konnte. Bei einem dieser Familienbesuche wurde er rückfällig: Er brach in zwei Läden ein und stahl 38 Stangen Zigaretten, 12 Happy-Day-Lose und 1200 Franken Bargeld.
Die Staatsanwaltschaft stuft ihn als Kriminaltouristen ein und verlangt eine Landesverweisung. Die erste Instanz ordnet diese an. Das Obergericht hebt sie 2019 aber wieder auf, damit die Familie nicht auseinandergerissen wird.
Die Kehrtwende hat allerdings nicht Bestand: Das Bundesgericht hebt das Urteil dieses Jahr wieder auf. Denn der Ausländer habe seine letzte Chance schon gehabt und verspielt.
Das Hin und Her zeigt, welche Mühe manche Richter mit der Umsetzung der Ausschaffungs- Initiative haben. Sie wurde vor zehn Jahren angenommen und definiert, in welchen Fällen eine Landesverweisung obligatorisch ist. Die Liste der Katalogtaten reicht von Mord bis Einbruch und von Vergewaltigung bis Sozialhilfebetrug.
Das Parlament hat eine Härtefallklausel eingeführt, die aber nur in Ausnahmen angewendet werden solle. Es versprach, die Initiative werde dennoch «pfefferscharf» umgesetzt. Doch das bedeutet in jedem Kanton etwas anderes, wie sich jetzt zeigt.
Diese Zeitung hat die neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik ausgewertet. Berücksichtigt werden alle Kantone mit mehr als fünfzig Verurteilungen von Ausländern wegen einer Katalogtat im Jahr 2019.
Das Resultat: Die kantonalen Unterschiede sind gross. Unerklärlich gross.
In Luzern erhalten neun von zehn Ausländern, die eine Katalogtat begangen haben, einen Landesverweis. In Solothurn hingegen wird nur jeder dritte ausgeschafft. Die Ausnahmebestimmung wird hier ad absurdum geführt: Sie gilt für die Mehrheit. Auch in Zürich machen Richter und Staatsanwälte den Härtefall zum Normalfall. Sie schicken nur 46 Prozent der kriminellen Ausländer zurück.
Mit der Anwendungsrate von 91 Prozent belegt Luzern den Spitzenplatz. Genf folgt mit 80 Prozent. Danach kommen Baselland, St.Gallen und Basel-Stadt mit rund 75 Prozent. Auf Rang sechs steht der Aargau, der knapp über dem Durchschnitt von 58 Prozent liegt.
Der landesweite Durchschnittswert ist tiefer als bisher angenommen. Zuvor ging man davon aus, dass die Anwendungsrate bei knapp 70 Prozent liege. Diese Woche ist es dem Bundesamt für Statistik zum ersten Mal gelungen, eine vollständige Anwendungsrate zu berechnen. Bisher war es nicht in der Lage, alle Katalogtaten zu erfassen.
Das Problem ist, dass zwei Katalogtaten aus einer Kombination von Straftaten bestehen. Erstens der Einbruch: Er ist ein Diebstahl in Verbindung mit einem Hausfriedensbruch. Und zweitens der Sozialhilfebetrug: Er ist ein Betrug in Kombination mit unrechtmässigem Bezug von Sozialhilfe. 2016 trat die Ausschaffungs-Initiative in Kraft. Vier Jahre lang haben die Statistiker daran gearbeitet, alle Urteile zu erfassen. Nun ist die Berechnung vollständig.
Die Quote ist mit der neuen Methode gesunken, weil die Härtefallklausel bei Einbrüchen und Sozialhilfebetrügen besonders häufig angewendet wird. So wird nur jeder zweite Einbrecher ausgeschafft. Und Sozialhilfebetrug ist das Delikt mit der tiefsten Anwendungsrate überhaupt: Nur in fünf Prozent der Fälle stuft die Justiz die «obligatorische Landesverweisung» tatsächlich als obligatorisch ein.
Für die Erklärung der Kantonsunterschiede gibt es drei Hypothesen.
Die erste Hypothese: Die Kriminalität unterscheidet sich. Luzern hätte also ein besonderes Problem mit schwer kriminellen Ausländern. Das ist aber nicht der Fall.
Christian Renggli, Sprecher des Luzerner Kantonsgerichts, sagt: «Die Kriminalität im Kanton Luzern unterscheidet sich nach unserer Einschätzung nicht wesentlich vom Rest der Schweiz.» Er nennt einen anderen Grund für den Spitzenplatz: «Wir versuchen, dem Willen des Gesetzgebers zu folgen.»
Die zweite Hypothese: In einigen Kantonen erledigen die Staatsanwälte viele Fälle per Strafbefehl und nehmen damit den Verzicht eines Landesverweises vorweg. Diesen Effekt gibt es tatsächlich, allerdings ist er schwach, wie das Bundesamt für Statistik berechnet hat.
Die dritte Hypothese: Einige Richter urteilen zu mild. Richter Hans-Peter Marti (FDP) leitet die Strafkammer des Solothurner Obergerichts und hat den Fall des kriminellen Kosovaren mitzuverantworten. Er sagt: «Unsere Kammer gehört sicher nicht zu den Hardlinern und prüft jeden Fall individuell sehr genau. Wir sind uns aber bewusst, dass noch eine Verschärfung droht, wenn wir die Messlatte zu tief legen.»