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Explosion in Beirut: «Super-GAU für den Libanon»

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«Warlords haben die Macht untereinander aufgeteilt» – was im Libanon alles schiefläuft

Die Explosion in Beirut war nur ein weiteres Kapitel in einer langen Reihe von Krisen, die der Libanon in den letzten Jahren erlebte. Die Schweizer Journalistin Marguerite Meyer erzählt im Interview, wie das Land scheiterte.
06.08.2020, 16:0610.08.2020, 11:58
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Sie haben letztes Jahr mehrere Monate in Beirut als Journalistin gearbeitet. Im Vorgespräch haben Sie erzählt, dass Sie die Explosion persönlich getroffen hat. Wie haben Sie die letzten 48 Stunden erlebt?
Marguerite Meyer:
Vorab möchte ich sagen: Ich war seit Dezember nicht mehr vor Ort. Die Lage im Land hat sich seither sehr stark verändert und ich stand immer wieder im Kontakt mit Bekannten im Libanon. Am Dienstagabend schickte mir ein Freund die Zeile «Bomb in Beirut» per Whatsapp – und es wurde mir schnell klar, dass etwas Grösseres passiert ist. Ich habe meinen Freundinnen und Freunden geschrieben und erhielt ein kurzes «OK», dass sie am Leben sind. Seither verfolge ich fast ununterbrochen die Lage. Es geht mir nahe, weil auch das Quartier, in dem ich gewohnt, und das Büro, in dem ich gearbeitet habe, völlig verwüstet wurden.

marguerite meyer
Natascha Unkart
Marguerite Meyer ist eine Schweizer Journalistin und arbeitet derzeit für «Bajour». Vergangenes Jahr schrieb sie für die libanesische Zeitung «The Daily Star».Bild: Natascha Unkart

Libanon bezeichnete man schon vor der Explosion als «Failed State» – als gescheiterten Staat. Wie kam es dazu?
Es hat auch mit dem politischen System zu tun. Seit dem Bürgerkrieg ist das Land aufgeteilt zwischen den politischen Parteien, die wiederum mehrheitlich auf einer Religionszugehörigkeit aufbauen. Die ältere Generation im Land erlebte das als «austariertes System», in dem die verschiedenen Konfessionen an der Macht beteiligt wurden, um einen erneuten Bürgerkrieg zu verhindern. Zumindest war das das Narrativ, das lange einigermassen gegriffen hat. In Wirklichkeit haben sich die ehemaligen Warlords (Anmerkung: militärischen Anführer) die politische und wirtschaftliche Macht untereinander aufgeteilt, das ist ein Klientelismus-System. Das führte zu Korruption und Misswirtschaft von öffentlichen Geldern oder Infrastrukturprojekten.

Das führte in den letzten Jahren mehrfach zu Krisen.
Genau. Die letzte grosse Krise betraf den Müll. 2015 versank Beirut komplett darin. Das führte damals schon zu grösseren Protesten, es entstanden auch zivilgesellschaftliche Organisationen – das wirkliche Problem wurde aber bis heute nicht gelöst. Das ist nur ein Beispiel. Die marode Infrastruktur und fehlende Verlässlichkeit führte unter anderem dazu, dass sich die Menschen selbst Hilfe suchen und dem Staat mehr und mehr misstrauen. Beim Strom dasselbe: Private Anbieter springen in die Bresche für Leistungen, die eigentlich zur staatlichen Grundversorgung gehören müssten. Haushalte, die sich einen Stromgenerator leisten können, holten sich einen. Es entstand ein Graumarkt – von dem dann zum Teil auch Leute profitieren, von denen nachgesagt wird, dass sie mit Politikern verbandelt sind.

Im Oktober 2019 erlebte das Land eine grosse Revolution. Bilder von hunderttausenden auf den Strassen dominierten auch hierzulande die Schlagzeilen. Sie waren zu diesem Zeitpunkt in Beirut. Was löste die grossen Proteste aus?
Die Stimmung kippte nicht von einem auf den anderen Tag. Das Fass zum Überlaufen brachten damals aber zwei Momente: Im Libanon brannten tagelang die berühmten Zedern-Wälder – der Baum gilt als Stolz des Landes und ist auf der Fahne abgebildet. Die Feuerwehr konnte aber mit ihren Löschhelikoptern nicht abheben, weil diese nicht gewartet wurden. Die Empörung wurde noch grösser, als die Regierung die Nutzung von Kommunikationsdiensten wie WhatsApp besteuern wollte – gefühlt ein Symbol dafür, dass der Staat die eigenen Leute nur noch schröpft und nichts dafür liefert.

Video: extern / rest/Marguerite Meyer

Und dann kam es zum geforderten Regierungswechsel.
In der Wahrnehmung eines grossen Teils der Bevölkerung nicht wirklich. Für viele junge Libanesinnen und Libanesen sind es immer noch dieselben Personen, die das Land regieren – oder eben nicht regieren. Die Staatsführung fühlt sich nicht verantwortlich oder reagiert zögerlich. Das war gut zu beobachten, als der französische Präsident Emmanuel Macron Stunden nach der Explosion Unterstützung zugesagt hatte – und Libanons 85-jähriger Präsident Michel Aoun erst am Morgen danach mit einer halbgaren Rede auftrat.

«Die Staatsführung fühlt sich nicht verantwortlich oder reagiert zögerlich.»

Es kamen Berichte auf, dass die staatlichen Behörden von der Gefahr des Ammoniumnitrat-Lagers im Hafen von Beirut wussten.
Ja, ein Al Jazeera-Journalist hat recherchiert, dass die Hafenbehörde in mehreren Briefen an den Staat auf das grosse Risiko hingewiesen hat. Die Chemikalien lagen offenbar mehrere Jahre da.

Was macht das eigentlich psychisch mit einer Gesellschaft, wenn man jahrelang zuschauen muss, wie die Regierung einen Bock nach dem anderen liefert? Läuft das Fass nicht irgendwann komplett über?
Diese Explosion ist ein Super-GAU für das Land. Auch ein funktionierendes Land wie die Schweiz hätte Mühe, nach einem solchen Ereignis zu funktionieren. Nur ist im Libanon schon seit Jahren das Vertrauen in den Staat völlig verschwunden. Im Herbst, als die Revolution ausbrach, machte sich zwar Hoffnung breit und die Bevölkerung wagte sich wieder an Visionen für eine bessere Zukunft. In den vergangenen Monaten passierte aber zu viel: Der Mittelstand brach während der Corona-Krise völlig weg und die eigene Währung wurde wegen der Inflation praktisch wertlos, die Preise schossen in die Höhe, Lebensmittel wurden knapp, die Stromversorgung wurde praktisch inexistent. Und der Hafen von Beirut war immens wichtig, das Land ist auf Importe angewiesen. Ich weiss nach dieser Katastrophe zum jetzigen Zeitpunkt wirklich nicht, wie man das als Mensch vor Ort psychisch aushalten kann. Alle, die ich kenne, stehen unter Schock oder funktionieren einfach.

Die marode Strominfrastruktur zwang Hausbesitzerinnen und -besitzer zu improvisierten Lösungen.
Die marode Strominfrastruktur zwang Hausbesitzerinnen und -besitzer zu improvisierten Lösungen. Bild: ZVG

Dabei gab es aus dem Libanon doch auch immer wieder gute Meldungen. Für mich war Beirut schon immer eine Wunschferien-Destination, auch in der Migrationskrise nahm das Land über eine Million syrischer Flüchtlinge auf.
Das hat sicher mit der Romantisierung des Libanons zu tun, die nicht nur im Westen, sondern auch vor Ort gemacht wird. Klar, das Land ist wunderschön. Die Kulturszene ist sehr divers, die Küche ist weit herum bekannt. Doch neben den genannten politischen Problemen wurden etwa die Geflüchteten aus Syrien nie wirklich Teil der lokalen Bevölkerung – das liegt aber auch an der Erinnerung an die syrische Besatzung während 30 Jahren. Jene aus palästinensischen Gebieten sind in dritter Generation noch staatenlos. Und das Kafala-System mit Haushaltshilfen vor allem aus Afrika und Asien kann schon fast als moderne Sklaverei bezeichnet werden.

Wie eine Austauschstudentin die Explosion in Beirut erlebte

Video: watson/lea bloch

Und jetzt kam noch die Explosion hinzu.
Ja. Beirut hat als Stadt viel ertragen müssen die letzten Jahrzehnte – das romantisierende Narrativ des Phönix aus der Asche war lange vielleicht eine Bewältigungsstrategie, um mit diesen unschönen Seiten umgehen zu können. Und dieses Betonen der Widerstandskraft spielt auch in die Bürgerkriegs-Fetischisierung von westlichen Medienschaffenden rein. Viele Leute im Libanon sind sehr geschäftig und ideenreich. Aber viele Menschen sind einfach sehr, sehr müde, und das Geschehen jetzt ist wirklich ein unfassbarer Schlag obendrauf.

Wie kann man der Bevölkerung nun helfen?
Wenn man helfen will, sollte man sich genau anschauen, wem man Geld oder Hilfsgüter überweist. Die Appelle, die derzeit kursieren, empfehlen zu Recht, Hilfe direkt an das Rote Kreuz oder lokale Organisationen zu schicken. Das Vertrauen in den Staat ist völlig zerstört und niemand glaubt daran, dass die Regierung irgendetwas noch leisten kann. Es braucht jetzt gerade vor allem Medizin, Essen und Unterkünfte.

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Schwere Explosion am Hafen von Beirut
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Schwere Explosion am Hafen von Beirut
Nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut steht die Stadt am Mittelmeer unter Schock. Die Zahl der Toten stieg auf mindestens 100, wie das libanesische Rote Kreuz am Mittwoch erklärte.

quelle: epa / @tayyaraoun1
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Videos zeigen das Ausmass der Katastrophe in Beirut
Video: watson
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19 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Des Heiland's Sack
06.08.2020 16:38registriert September 2015
Ich sitze hier in meinem Garten, die Vögel zwitschern, der Fluss rauscht, mein Hund springt den Wespen hinterher und drinnen wird zusammen gelacht.
Es gehört sicherlich zu den abstraktesten Dingen, die die Globalisierung in unsere Wohlstandsländer gebracht hat - dieses latente, immerwährende Wissen, dass es Orte gibt, an denen das Elend unsäglich ist, die Umstände zutiefst menschenverachtend und brutal. Dazu kommt diese Ohnmacht, der innere Kampf zwischen Mitgefühl und Selbstschutz. Es sind immer zu viele Orte auf der Welt.
Doch wenn man ein wenig zulässt... Es ist so traurig 😢
29917
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Denk nach
06.08.2020 16:54registriert Juli 2016
"Die Appelle, die derzeit kursieren, empfehlen zu Recht, Hilfe direkt an das Rote Kreuz oder lokalen Organisationen zu schicken. Das Vertrauen in den Staat ist völlig zerstört und niemand glaubt daran, dass die Regierung irgendetwas noch leisten kann."

Das Fazit ist richtig übel...
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[CH-Bürger]
07.08.2020 06:08registriert August 2018
kurzer Sarkasmus-Einschub:
"Was macht das eigentlich psychisch mit einer Gesellschaft, wenn man jahrelang zuschauen muss, wie die Regierung einen Bock nach dem anderen liefert? Läuft das Fass nicht irgendwann komplett über?"

Kann man diese Frage bitte auch mal den Amis stellen?
ist dort natürlich bei weiten nicht so schlimm wie im Libanon - aber auf bestem Weg dazu!
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