Boris Johnson ist fast am Ziel. Am Dienstag wird das Ergebnis der Abstimmung unter den rund 160'000 Tory-Mitgliedern für die Nachfolge von Theresa May bekannt gegeben. Und Brexit-Hardliner Johnson gilt als haushoher Favorit für den Premier-Posten. Laut einer Umfrage der Sun on Sunday wollen 73 Prozent der wahlberechtigten Tory-Mitglieder Johnson wählen.
Aber warum eigentlich? Wer das Rennen um den Tory-Vorsitz und das Amt des Premierministers verfolgte, sah zahlreiche Pannen von Boris Johnson im Wahlkampf. Leere Stühle, Debatten über Frisuren und Räucherheringe: Oft erschien Johnson als Ziel des Spotts.
Doch die Pannen-Serie kann auch erklären, warum Johnson seinem Konkurrenten Jeremy Hunt so überlegen ist.
Fangen wir an mit dem leeren Stuhl.
Am 3. Juni stieg Boris Johnson offiziell ins Rennen um die Nachfolge der gescheiterten Premierministerin Theresa May ein. Ein Video auf Twitter zeigte ihn mit neuer Frisur und neuer Ernsthaftigkeit. Sein zentrales Versprechen: Mit mir bekommt ihr endlich den Brexit.
Please check out my campaign launch video. Time to deliver Brexit and unite our fantastic country. I hope you will support me > @BackBoris #BackBoris pic.twitter.com/iRZ8b0flRK
— Boris Johnson (@BorisJohnson) June 3, 2019
Schon bald gab es aber Spott für den neuen Boris: Er schien Presseauftritten aus dem Weg zu gehen. Möchte der Mann, der sich so gerne in Live-Interviews verplappert, Peinlichkeiten vermeiden? Das jedenfalls war eine Lesart in der Öffentlichkeit.
Please retweet to raise awareness #WheresBoris pic.twitter.com/DV5KBkArAh
— General Boles (@GeneralBoles) June 11, 2019
Höhepunkt war dann, dass Boris Johnson Mitte Juni nicht zu einer Debatte mit den damals noch fünf verbleibenden Konkurrenten erschien. Die TV-Diskussion würde unübersichtlich ausfallen, war seine offizielle Begründung.
Oh my god Channel 4 actually did leave an empty chair for Boris Johnson because he didn't show up to debate. I love the fact that it is central as well. #C4Debate pic.twitter.com/1uyPvqhKvr
— George Aylett 🌍 (@GeorgeAylett) June 16, 2019
Der Spott der Journalisten war Johnson für diesen Nicht-Auftritt sicher.
Die wirre Friseur des britischen Politikers ist sein Markenzeichen, ähnlich wie die blonde Tolle von Donald Trump.
Johnsons Haare standen auch im Fokus der Episode um den Streit von Johnson mit seiner Lebensgefährtin Carrie Symonds. Freitag, den 20. Juni, war die Polizei zur Wohnung von Johnson in London gerufen worden, eine Nachbarin hatte einen lauten Streit gehört und sich Sorgen gemacht.
Der Streit beherrschte die Schlagzeilen der britischen Presse. Johnson selbst wollte sich nicht zu seinem Privatleben äussern. Am Montag darauf erschien dann ein Foto von Johnson und Symonds in mehreren Zeitungen, es sollte offenbar Harmonie ausdrücken.
“Speaking to LBC, Johnson refused at least half a dozen times to comment on the photo of himself and Carrie Symonds seemingly sitting in the garden of a pub. He would not answer when the host, Nick Ferrari, pressed: “This is quite an old picture isn’t …” https://t.co/ifUGXNxNK8
— oxfordgirl (@oxfordgirl) June 25, 2019
Das Problem nur: Die Haare von Johnson sind auf dem Foto deutlich länger, als sie zu diesem Zeitpunkt eigentlich waren. Hatte das PR-Team von Johnson ein altes Foto ausgegeben, um die Wogen zu glätten?
Genau das wurde Johnson im Interview mit LBC wiederholt gefragt (26 Mal!). Und wiederholt verweigerte er eine Antwort. Keine Antwort ist auch eine Antwort, das war der Tenor der Presse nach diesem gescheiterten Auftritt von Boris Johnson.
Nick Ferrari asked Boris Johnson when the picture of him with his girlfriend was taken. When he didn't answer, Nick asked again. And again. And again. 26 TIMES.@NickFerrariLBC | #AskBoris pic.twitter.com/6uSzcKJJ6C
— LBC (@LBC) June 25, 2019
Politiker und ihre Leidenschaften und Hobbies: ein kompliziertes Thema.
Theresa May wurde einmal gefragt, was das Unartigste gewesen sei, das sie jemals getan habe. Es wäre eine Möglichkeit für die oft so stoisch wirkende May gewesen, etwas menschlicher zu wirken. Ihre Antwort: «Oh Gott, nun, ich schätze, ich muss gestehen, als ich jünger war, liefen ich und meine Freunde durch Weizenfelder, die Bauern waren nicht allzu glücklich darüber.»
Johnson verspottete May danach. Er erlebte kürzlich aber seinen eigenen «Weizenfeld»-Moment.
Ein Reporter fragte ihn, wie er sich entspanne. Boris Johnson kam mit einem äusserst skurrilen Hobby um die Ecke: Er bastle aus Holzkisten Busse.
Das ist die kurze Version der Antwort. Die lange, so kompliziert hervorgebrachte Antwort von Johnson, seht ihr hier:
Boris Johnson has revealed to @talkRADIO that he relaxes by painting models of buses with "passengers enjoying themselves" on wine crates.
— Sky News (@SkyNews) June 25, 2019
In another interview, Mr Johnson again ducked questions about a "staged" photo with his partner https://t.co/lM0n512cdv pic.twitter.com/wCOIidp24H
Der Gesichtsausdruck des Interviewers sprach dann auch Bände.
Ende Juni war dann klar: Das Rennen um die Nachfolge von May wird sich zwischen Boris Johnson, dem Ex-Aussenminister, und Jeremy Hunt, dem amtierenden Aussenminister, entscheiden.
Boris Johnson konnte Konfrontationen nicht mehr aus dem Weg gehen. Und eine Blamage folgte bald.
In einem Interview mit der BBC präsentierte Johnson seinen Brexit-Plan. Der Plan sieht im Grunde vor, die EU am 31. Oktober zu verlassen, auch ohne Austrittsabkommen. Johnson glaubt, dass negative Auswirkungen dieses No-Deal-Brexits, den Ökonomen für eine Katastrophe halten, umgangen werden könnten – mithilfe einer Bestimmung aus dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT), einem internationalen Vertrag, der den Grundstein für die Welthandelsorganisation (WTO) legte.
Das erklärte Johnson BBC-Moderator Andrew Neil. Demnach würden nach dem Brexit ohne Vertrag dennoch die gleichen Handelsregeln wie bisher gelten. Zölle: überflüssig. Das sei mit Artikel 24, Paragraf 5b des GATT-Abkommens möglich, sollte die EU zustimmen.
Neil liess Johnson eiskalt auflaufen. Er fragte Johnson, ob dieser wisse, was in Paragraf 5c stünde. Johnson verneinte.
Darin stehe, belehrte ihn Neil, dass Johnson für diese imaginierte «Übergangsphase» «nicht nur die Zustimmung der EU braucht, sondern man muss sich auch auf die Umrisse eines künftigen Handelsabkommens einigen und den Zeitplan, um das zu erreichen». Mit anderen Worten: Es wird nicht möglich sein.
"Do you know what's in paragraph 5c?"
— BBC Politics (@BBCPolitics) July 12, 2019
"No" @AfNeil challenges Boris Johnson on the detail of how the UK would trade with the EU after #Brexit
The Andrew Neil Interviews: Watch in full at 7pm on @BBCOne #BBCOurNextPM
[tap to expand] https://t.co/Vi5EqKlFAg pic.twitter.com/wEl81N4maG
Übrigens hat die EU mehrfach klar gestellt, dass eine solche Übergangsphase nur mit unterschriebenem Austrittsvertrag möglich ist.
Boris Johnson zählt zu den lautstärksten Kritikern der EU in Grossbritannien (dabei konnte er sich vor dem EU-Referendum noch sehr schwer entscheiden, ob er für oder gegen den Austritt sein würde).
Seine europaskeptische Polemik liess er erst am Mittwochabend wieder vom Stapel. Mitten während seiner Rede holte er bei einem Auftritt einen in Plastik verpackten Räucherhering unter dem Pult hervor.
Mit dem Fisch in der rechten Hand wetterte er gegen Brüssel. Der Hering sei auf der Isle of Man hergestellt worden, erklärte Johnson. «Brüsseler Eurokraten» hätten angeordnet, dass er nur noch mit einem Eiskühlkissen verkauft werden dürfe. Dies sei «sinnlos, teuer, umweltschädlich». Fischer würden dadurch hohe, unnötige Kosten tragen.
Boris Johnson waves around a kipper
— BBC Politics (@BBCPolitics) July 17, 2019
He explains that an Isle of Man kipper smoker is complaining about EU red tapehttps://t.co/oaTyXr72jE pic.twitter.com/QY11ZyqEui
Die EU, das bürokratische Monster? Falsch.
Das von Johnson kritisierte Kühlkissen aus Plastik basiere auf einer Vorschrift der britischen Regierung, entgegnete die EU-Kommission. «Der von Herrn Johnson beschriebene Fall fällt nicht in den Anwendungsbereich der EU-Gesetzgebung, und es liegt ausschliesslich in der Zuständigkeit des Vereinigten Königreichs», sagte eine Kommissionssprecherin.
"UK rules, not EU legislation" @EU_Commission on "plastic ice pillow" for smoked kippers. Mr Boris Johnson said it was "pointless, expensive, environmentally-damaging health and safety" and an example of EU red tape. pic.twitter.com/kIjxwyy8Fq
— Pablo Pérez 🇪🇺 (@PabloPerezA) July 18, 2019
Diese (noch unvollständige) Liste der Pannen von Boris Johnson macht deutlich: Der wahrscheinlich künftige Premierminister wirkt nicht immer wie der kompetenteste Politiker, um es vorsichtig auszudrücken.
Und dennoch wird er Grossbritannien künftig regieren. Die Pannenserie kann aber auch erklären, warum.
Zum einen zeigen die fünf Beispiele deutlich, wie Johnson in den vergangenen Wochen im Tory-Wahlkampf die Schlagzeilen dominiert hat. Es verging kaum ein Tag ohne News über den Politiker. «Bad publicity is better than no publicity», heisst es. Jede PR ist gute PR.
Das Phänomen Boris Johnson funktioniert in dieser Hinsicht wie das Phänomen Donald Trump. Kein Skandal schien Trump im Wahlkampf 2016 aufhalten zu können. Vielmehr machte ihn jeder Skandal nur präsenter. Auch Johnson drückte seine Konkurrenten mit seiner Präsenz an die Wand.
Den Tory-Wählern ist es offenbar egal, dass sich ihr möglicher neuer Premier oft um Kopf um Kragen redet, dass er Paragraphen in Verträgen nicht kennt oder sich mit Vorschriften über Räucherheringe blamiert.
Denn die Fehler unterlaufen Johnson auch, weil er impulsiv ist, weil er offen spricht, weil er gerne Witze reisst. Johnson hebt sich dadurch deutlich ab von seinem Konkurrenten Jeremy Hunt. Johnson mag der Klassenclown der britischen Politik sein, im Vergleich zu ihm wirkt Hunt aber wie der Streber in der Klasse, der gerne übersehen wird.
Mit seinen Reden von der «grossartigen» Zukunft Grossbritanniens nach dem Brexit und seinem Pochen auf den Austritt, komme was wolle, holt Johnson zudem die konservativen Wähler ab, die bei der Europawahl in Scharen zur rechtspopulistischen Brexit-Partei abwanderten.
Seine Pannen-Serie wird Boris Johnson wohl bald in der Downing Street No. 10 fortsetzen.
Dies zeugt leider eher vom Zustand der heutigen Gesellschaft und so gar nicht von der Kompetenz der Politiker.
Kein gutes Zeichen für die Demokratie.
Man kann nicht nur Fussballclubs innert kürzester Zeit von der Erfolgs- auf die Verliererspur führen, sondern auch ganze Länder. Und ich frage mich immer wieder, was denn die Brexiter glauben, das besser wird, wenn sie zur EU raus sind.