Ratlos steht die junge weisse Frau im Supermarkt. Zum Abendessen will sie eine Fischpfanne zubereiten, weiss aber nicht, welche Arten sich dafür eignen. Kurz entschlossen holt der schwarze Verkäufer Oscar sein Handy heraus, ruft Oma Bonnie an und reicht das Handy an die verblüffte Kundin weiter, die nun Tipps von der erfahrenen Köchin bekommt.
Ein Traum von multiethnischem Miteinander könnte man meinen. Doch Oscar ist eigentlich gar kein Verkäufer mehr. Er hat zwar zuvor im Supermarkt gejobbt, sein Chef hat ihn jedoch wegen notorischer Unpünktlichkeit gefeuert. Nun versucht er, ihn durch den Sondereinsatz davon zu überzeugen, ihm eine zweite Chance zu geben – so wie er es am Morgen bereits bei seiner Freundin versucht hat und am Nachmittag bei seiner Mutter versuchen wird, die er ebenfalls enttäuscht hat.
Doch sein Engagement wird Oscar nichts nützen. Am Ende des Tages wird er mit einer Kugel in der Brust auf dem Bahnsteig einer U-Bahn-Haltestelle in San Francisco liegen, angeschossen von einem weissen Polizisten, der sich von ihm und seinen Freunden bedroht gefühlt hat. Wenige Stunden später wird Oscar an der Verletzung sterben.
«Nächster Halt: Fruitvale Station» basiert auf einer wahren Geschichte. Am Abend des 31. Dezember 2008, noch nicht einmal zwei Monate nach dem historischen Sieg von Barack Obama bei den US-Präsidentschaftswahlen, wurde der 22-jährige Afroamerikaner Oscar Grant zusammen mit ein paar Freunden von weissen Polizisten aus der U-Bahn Richtung San Francisco Innenstadt gezogen. Die Stimmung war aufgeheizt, nicht nur weil Silvester war, sondern auch weil die Gruppe zuvor in eine kleine Rangelei mit anderen Fahrgästen verwickelt war. Doch bevor sich die Gemüter beruhigen ließen, fiel ein Schuss. Er habe seinen Taser ziehen wollen und dabei aus Versehen seine Pistole gegriffen, sagte der Polizist später vor Gericht. «Nichtvorsätzlicher Totschlag» lautete das Urteil.
Der Fall empörte 2009 die Menschen weit über Kalifornien hinaus. Es kam zu wütenden Demonstrationen und Mahnwachen. Nicht nur wegen der Tat und der zweifelhaften Entscheidung des Gerichts, sondern auch wegen der Videoaufnahmen, die es von der Fruitvale Station gibt. Mehrere Passanten hatten die Auseinandersetzung mit dem Handy gefilmt. Die Aufnahmen zeichnen ein unübersichtliches Bild, man hört laute Rufe und kann nicht sofort ausmachen, wer gerade die Kontrolle über die Situation hat. Aber genau das macht die Brisanz der Aufnahmen aus. Keines der Ereignisse auf dem Bahnsteig war zwangsläufig, alles hätte jederzeit anders ausgehen können – und ist doch auf die schlimmstmögliche Weise geendet.
Daraus zieht auch der Kinofilm «Fruitvale Station» seine Spannung. Der Regiedebütant Ryan Coogler, der mit diesem Film bereits über 30 Preise gewonnen hat, stellt die Handyaufnahmen seiner semi-fiktiven Rekonstruktion des letzten Tages im Leben von Oscar Grant voran. Man weiss, wie dieser Tag enden wird und, den Gesetzen der Kinonarration folgend, beginnt man, das Ende als Fluchtpunkt der Erzählung zu sehen. Doch nichts will sich fügen, nichts löst sich auf.
Vor einem Jahr sass Grant (Michael B. Jordan) zu Silvester noch wegen Drogenhandels im Gefängnis. Jetzt will er endlich wieder Fuss fassen und für seine Freundin Sophina (Melonie Diaz) und ihre gemeinsame kleine Tochter da sein. Doch ohne festen Job – dafür mit einer prall gefüllten Tüte Dope im Kleiderschrank – lässt sich das schwer bewerkstelligen. Und dann ist da auch noch der Seitensprung, den ihm Sophina verzeihen müsste, damit der Familienfrieden wiederhergestellt ist.
«Je nachdem, auf welcher Seite die Menschen politisch standen, wurde Oscar wahlweise als Heiliger bezeichnet, der in seinem Leben noch nie etwas falsch gemacht hatte, oder als Monster, das in jener Nacht bekommen hat, was es verdient hat», beschreibt Ryan Coogler die Reaktionen auf das Gerichtsverfahren. Er habe ihn in seiner Menschlichkeit zeigen wollen, was er seiner Familie und seinen Freunden bedeutet habe, so Coogler.
Oscar Grant weder in die eine noch die andere Richtung zu überhöhen, gelingt Coogler zweifelsfrei. Am Silvestertag, den Coogler mit Hilfe von Berichten von Freunden und Familien rekonstruiert hat, zeigt sich Oscar zwar von seiner charmantesten Seite. In einem Flashback in seine Zeit im Gefängnis ist er jedoch auch als heissblütiger Dealer zu sehen, der sich der Dynamik im Knast nur äusserst schwer entziehen kann. Wie weit kann er diese Vergangenheit aus eigener Kraft hinter sich lassen? Wie weit lässt es die Gesellschaft zu?
Dass Oscar von Michael B. Jordan gespielt wird, nimmt der Figur allerdings einiges an Ambivalenz: Der Serienstar («Friday Night Lights») hat ein so offenes Gesicht und so freundliche Augen, dass man nicht umhin kommt, sich auf seine Seite zu schlagen und am Schicksal seiner Figur fast zu verzweifeln. Jordans Besetzung ist aber das einzige, was bei «Fruitvale Station» leicht berechnend wirkt. Der Film ist vielmehr durchwirkt von der Wut, die Coogler bei der Entwicklung und beim Dreh angetrieben hat. Grant hatte die gleiche Hautfarbe und das gleiche Alter wie Coogler, als er erschossen wurde. «Mir wurde ziemlich schnell klar, dass das genauso gut auch ich hätte sein können», sagt Coogler über seine ersten Reaktionen auf die Meldung von Grants Tod.
«Fruitvale Station» ist dennoch kein unversöhnlicher Film. Er beginnt mit dem Ende, den Handyaufnahmen von der Fruitvale Station, und hört mit dem Anfang auf. Dann zeigt Coogler nämlich, wen er als Hoffnungsträger sieht. Wer das ist, das sei bei einer Geschichte, von der das Schrecklichste schon bekannt ist, aber nicht verraten.