Sie haben sich zum Verhungern gern: Wie sich dünne Mädchen im Internet gegenseitig in die Magersucht treiben

Selfie einer Magersüchtigen.
Selfie einer Magersüchtigen.bild: twitter

Sie haben sich zum Verhungern gern: Wie sich dünne Mädchen im Internet gegenseitig in die Magersucht treiben

Unreflektiert, undistanziert, unbelehrbar, aber hoch diszipliniert: Die beängstigende Welt der Pro-Ana-Bewegung boomt trotz Androhung von Gefängnisstrafen.
12.05.2016, 15:36
Simone Meier
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Das Schlüsselbein muss hervorstechen, die Wirbelsäule, jede einzelne Rippe soll hervortreten, die Bauchdecke muss konkav sein, bei geschlossenen Füssen dürfen sich die Oberschenkel nicht berühren. Feenhaft ätherisch wollen die Mädchen sein. In einem morbiden Ornament aus Knochen verschwinden. Einem Manga-Wesen gleich. Der menschliche Körper nur noch als tragendes Gerüst für Hauch einer Fantasie, mehr nicht.

Nur die Haare sind dabei ein ewiges Problem, die Haare werden bei alledem stumpf und struppig, nicht zuletzt, weil sie im Idealfall blond sein sollten. Wasserstoffblond. Lichtblond. Ein Heiligenschein. Und wer nicht nur eine Anorektikerin, sondern auch eine Bulimikerin ist, weiss auch, dass Magensäure die Zähne angreift.  

Ihre Hashtags lauten zum Beispiel #thinspiration oder #bonespiration, abgekürzt #thinspo und #bonespo. Dünn und knochig als Religion. Ihre Heiligen: «Ana» und «Mia». Anorexie und Bulimie. Das klingt nicht nach Krankheiten oder Essstörungen, sondern nach Freundinnen. Die sie nicht zum Fressen, sondern zum Verhungern gern haben. Das heisst dann «Pro-Ana» und «Pro-Mia».

Viele vergleichen sich mit einer Feder. Leicht und makellos. Diszipliniert. Und vor allem: nicht Frau geworden. Frauen sind eklig, sind «fat bitches». Ein Frauenkörper ist ein Zeichen der Disziplinlosigkeit. Die Vorbilder der mageren Mädchen sind entsprechend alle sehr jung. Jennifer Lawrence (24) geht noch knapp, wegen ihrer hervortretenden Wangenknochen. Abgesehen davon ist sie natürlich dick. Cara Delevingne (22) besteht einzig wegen ihrer dünnen Arme. 

Pro-Ana-Regeln

  • Dünn sein ist wichtiger als gesund sein.
  • Du darfst nicht ohne Schuldgefühle essen.
  • Du darfst kein fettes Essen zu dir nehmen, ohne dich danach zu bestrafen.
  • Du kannst nie zu dünn sein.
  • Ein unförmiger Körper zeugt von einer unförmigen Seele.
  • Ana ist ein Lifestyle, keine Diät.
  • Aus diversen Pro-Ana-Blogs

Ratschläge zur Einhaltung der Regeln

  • Reibe dir die Zunge mit einem betäubenden Gel ein (etwa einem Produkt für Babys, die zahnen), dann merken die Geschmacksknospen nicht, ob du bloss Watte oder ein Stück Schokolade isst.
  • Verbringe so viel Zeit wie möglich an einem Ort, wo Essen und Trinken verboten sind, am besten in einer Bibliothek, dort kannst du auch gleich noch ein paar Diätbücher lesen.
  • Schiebe dein Essen auf dem Teller hin und her und mach den Teller absichtlich schmutzig, am besten mit verschmierter Butter, damit er gebraucht wirkt.
  • Putz deine Zähne so oft wie möglich. Mit dem Geschmack von Zahnpasta im Mund hast du keine Lust auf Essen.
  • Sprich niemals über dein Gewicht, das macht dich verdächtig, schliesslich hast du dafür das Internet. 
  • Der beste Appetitzügler: Toiletten reinigen.
  • Schau «America's Next Topmodel» (auch zu ersetzen durch «Germany's Next Topmodel»).
  • Aus diversen Pro-Ana-Blogs

Frankreich hat vor Kurzem nicht nur magersüchtige Models, sondern auch das Betreiben von Pro-Ana-Blogs und -Webseiten verboten. Wer erwischt wird, muss mit einem Jahr Gefängnis rechnen. Holland überlegt sich aktuell die gleiche Massnahme. Es wird nichts nützen. Denn die Pro-Ana-Community ist nicht nur radikal gegen sich selbst (und Mitläuferinnen, die «nur» eine Diät machen wollen, sogenannte «Wannarexiscs»), sondern auch rasend schnell darin, sich epidemisch in allerlei Nischen und Lücken breit zu machen. 

Gerade auf den Social-Media-Kanälen sind sie derart präsent, dass die Betreiber mit dem Löschen der Seiten – Facebook ist am erfolgreichsten, die andern haben kapituliert – gar nicht mehr nachkommen. Denn die Guerilla-Truppen der mageren Mädchen sind klein, gut versteckt und äusserst beweglich. 

Die Betreiberinnen der Seiten sind meist Teenager. Unter ihren Fans finden sich im Schnitt Fünf- bis Siebzehnjährige. Ihr Antrieb ist eine Überidentifikation mit photogeshoppten oder zurecht operierten Prominenten. Die ihnen vorgaukeln, dass Menschen, die sich aus eigener Kraft ausmergeln, mehr Liebe und Respekt zufliessen. Die mageren Mädchen bringen jeden Medientheoriker zur Verzweiflung mit ihrer unreflektierten, undistanzierten, unironischen Adaption von Vorbildern. 

Angelina Jolie tätowierte sich einst «Quod me nutrit me destruit» auf den Bauch. Was mich nährt, zerstört mich. Sie meinte damit die verquere Beziehung zu ihrem Vater. Die Pro-Ana-Gemeinde meint damit Nahrungsmittel. Mehrere Mädchen laufen seither mit Angelina Jolies Tattoo herum. Magersüchtige Promis wiederum geben sich ihren stillen Fans durch feine Armbänder aus roten (Ana) oder pinken (Mia) Glasperlen zu erkennen. Etwa Nicole Richie oder Lindsay Lohan.

Am Ende ist ihre Geschichte eine traurige Geschichte. Eine von fehlendem Selbstwert. Am Ende geht es ihnen um Liebe. Um Männer. Um ein Geschlechterbild, das geradezu fabelhaft altbacken ist. Um Backlash pur. Starksein heisst Dünnsein, sonst nichts. Immer wieder äussern die Mädchen, dass sie von Männern erst im Zustand der totalen Zerbrechlichkeit und Schwäche so richtig beschützt und auf Händen getragen würden. Dass bei einem leichten Mädchen die Liebe umso gewichtiger ausfällt. Wahrscheinlich fotografieren sie sich genau deshalb am liebsten in Unterwäsche. Und am allerliebsten ohne Kopf.

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