Glücksfall Marthaheim - vom Rand der Gesellschaft in eine Hausgemeinschaft

Glücksfall Marthaheim - vom Rand der Gesellschaft in eine Hausgemeinschaft

04.09.2017, 11:20

Früher bewegten sie sich am Rand der Gesellschaft, heute gehören sie zu einer Hausgemeinschaft: Im Marthaheim in St. Gallen leben 42 pflegebedürftige Bewohnerinnen und Bewohner trotz Sucht oder psychischer Erkrankungen weitgehend selbstbestimmt.

Was passiert mit Menschen, die Suchtprobleme, eine psychische Erkrankung oder eine geistige Einschränkung haben, wenn sie pflegebedürftig werden? Diese Frage stellen sich nicht nur die Angehörigen, auch die Verantwortlichen der klassischen Heime sind mit dieser Klientel immer öfter überfordert.

«Wenn es in anderen Heimen nicht mehr geht, dann kommen wir zum Zug», sagt Barbara Bietmann, die das Marthaheim seit zehn Jahren leitet. Das Marthaheim mit seinen 42 Plätzen ist die einzige Institution in St. Gallen mit einem gerontopsychiatrischen Angebot. Zugewiesen werden die Bewohnerinnen und Bewohner auch von Rehabilitationskliniken, Sozialämtern oder von der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb).

Das Marthaheim ist in einer stattlichen Villa rund 500 Meter vom Bahnhof St. Gallen untergebracht. Das Gebäude ist in die Jahre gekommen und genügt den Bedürfnissen seiner Bewohner und den 47 Mitarbeitenden nicht mehr. Viele Zimmer haben keine Nasszellen, die Personalräume sind winzig und der Garten nicht rollstuhlgängig.

Auf dem Gang kommt der Leiterin eine ältere Frau mit Rollator entgegen. Das Leben hat bei der Frau einige Narben hinterlassen. Sie strickt sehr gerne und zeigt die selbstgemachten Jacken und «Deckeli». Ihr ganzer Stolz ist die eigene Kaffeemaschine.

Nicht mehr als ein Karton Wäsche

«Bei uns leben Menschen, die sich ihr ganzes Leben am Rande der Gesellschaft bewegt haben», sagt Barbara Bietmann. Die jüngste Heimbewohnerin ist 47, die älteste 100 Jahre alt. Alle haben eine ausgewiesene Pflegebedürftigkeit, die ambulant nicht mehr aufgefangen werden kann.

Für viele ist es der letzte Lebensabschnitt. «Sie sollen ihre Würde und Lebensfreiheit deshalb nicht aufgeben müssen», betont Bietmann. Jeder der 42 Bewohner hat sein eigenes Zimmer, kann die eigenen Möbel mitbringen und auch Haustiere sind willkommen. Zurzeit beherbergt das Marthaheim auch drei Katze, zwei Vögel und ein Meerschweinchen. Ein Paar lebt gemeinsam in einem Zimmer.

Meist haben die Bewohner keine Angehörigen mehr oder sie haben sich im Laufe der Jahre distanziert. Es komme immer häufiger vor, dass die Menschen mit nichts anderem einziehen, als mit einem Karton voller Wäsche.

«Unsere Bewohnerinnen und Bewohner sind verhaltensoriginell», sagt Bietmann. Deshalb sei es wichtig, dass sie einander ausweichen können. Sie leben nicht in Wohngruppen, sondern als Hausgemeinschaft. Das trage zur Identifikation mit dem ganzen Haus bei. Jede und jeder hat einen Hausschlüssel. Wer sich abmeldet, kann auch einmal eine Nacht ausser Haus verbringen.

Ein offenes Haus

Das Marthaheim ist ein offenes Haus und schätzt den Kontakt mit der Bevölkerung. Das hauseigene Restaurant bietet Mittagsmenüs an und wird rege genutzt. An diesem Nachmittag sitzen einige Hausbewohner an den Tischen.

Weil er in seiner früheren Institution unordentlich gewesen sei, sei er abgeschoben worden, sagt William House. Der 84-jährige Kunstmaler, der einst in Hollywood lebte, ist seit einem Schlaganfall pflegebedürftig. «Im Marthaheim wird einem das richtige Mass an Betreuung geboten, ohne eine Überbetreuung», sagt er. Hier werde einem die Möglichkeit eines besseren Lebens geboten, als alleine zu Hause, egal wie schräg man sei.

Im Marthaheim leben etliche Menschen mit einer langen Suchtgeschichte. «Wir wollen die Leute zwar nicht nacherziehen, aber auch bei Menschen mit Mehrfachsüchten haben wir klare Regeln», sagt die Heimleiterin. Alkohol wird nur in abgemachten Mengen ausgeschenkt, Methadon und Medikamente gibt es nur auf ärztliche Verschreibung.

Der Beschaffungsdruck falle weg und es gebe keine Entwertung durch das Personal. «Es braucht Leute, die mit den unterschiedlichsten Situationen klar kommen, flexibel sind und die Bewohnenden professionell pflegen», sagt Barbara Bietmann über ihre Mitarbeitenden.

Sich als Teil der Stadt fühlen

Hanspeter Sprenger kam vor sieben Jahren nach einem Klinikaufenthalt ins Marthaheim. Heute ist er gut mit Methadon und Neuroleptika eingestellt und schätzt das Paket an Pflege und Betreuung. «Ich konnte mir selbst nicht mehr schauen. Meine Wohnung und ich selber verwahrlosten immer mehr», sagt er.

Der letzte Versuch nochmals alleine zu wohnen, scheiterte. Der 60-Jährige träumt immer noch von einer eigenen Wohnung. Einmal im Tag verlässt er das Heim für einen Espresso in einer nahegelegenen Bar. «Ich fühle mich dann als Teil der Stadt.»

Trägerin des Marthaheims ist die gemeinnützige und Hilfs-Gesellschaft der Stadt St. Gallen (GHG), welche vor kurzer Zeit mit einer spektakulären Verschiebung einer Villa von sich reden machte.

Die Verschiebung der Villa Jacob hat auch mit dem Marthaheim zu tun. Aufgrund der zunehmenden Nachfrage wird das Marthaheim in einen Neubau neben der Villa umziehen. Ab Mitte 2019 sollen dann 80 Menschen einen Platz in der neuen Hausgemeinschaft bekommen. (sda)

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