Der Nationalrat hat am Dienstag mit den Beratungen zur Wiedergutmachungsinitiative begonnen. Diese verlangt, dass ehemalige Verdingkinder und andere Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen finanzielle Leistungen erhalten. Zur Debatte steht auch ein Gegenvorschlag.
Entscheiden wird der Rat am Mittwoch. Unbestritten ist, dass es sich um ein dunkles Kapitel der jüngsten Schweizer Geschichte handelt. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen waren bis 1981 angeordnet worden.
Zehntausende von Kindern und Jugendlichen wurden an Bauernhöfe verdingt oder in Heimen platziert, viele wurden misshandelt oder missbraucht. Menschen wurden zwangssterilisiert, für Medikamentenversuche eingesetzt oder ohne Gerichtsurteil weggesperrt - wegen «lasterhaften Lebenswandels» oder «Liederlichkeit».
Im Schweinestall geschlafen
Die Rednerinnen und Redner im Nationalrat zeigten sich fast durchs Band erschüttert. Manche berichteten von Begegnungen mit Opfern, andere von betroffenen Familienangehörigen - Beat Flach (GLP/AG) etwa von seiner Grossmutter, die als Verdingkind bei den Schweinen schlafen musste und Kartoffelschalen zu essen bekam, Matthias Aebischer (SP/BE) von seinem Grossvater, der fast täglich geschlagen wurde.
Die Erfahrungsberichte seien schockierend, stellte Roberto Schmidt (CVP/VS) im Namen der vorberatenden Kommission fest. Das helfe den Betroffenen aber nicht. Das psychische und physische Leid habe ihr Leben geprägt. «Wir müssen und wollen das grosse Unrecht, das diese Menschen erlitten haben, anerkennen und wenigstens teilweise wieder gutmachen.»
Auch Frauen könnten Geld verlangen
Gegen finanzielle Leistungen für die Opfer stellt sich die SVP-Fraktion und ein Teil der FDP. Zahlungen wären nur gerechtfertigt, wenn die staatlichen Handlungen dem damaligen Recht widersprochen hätten, argumentieren die Gegner. Allerdings wären die Taten in diesem Fall verjährt.
«Wir dürfen nicht einfach Geld verteilen, weil uns gerade der Sinn danach steht oder weil mit Filmen, Büchern und durch Medien ein öffentlicher Druck aufgebaut wurde», sagte Claudio Zanetti (SVP/ZH). Er warnte vor möglichen anderen Anspruchsgruppen. «Man stelle sich vor, dass eines Tages die Frauen kämen und sagten, sie hätten unter dem alten Eherecht gelitten.»
Nicht über Vorfahren urteilen
Hans-Ueli Vogt (SVP/ZH) sprach von einem «Gesinnungsimperialismus» in historischer Dimension. Was als richtig und falsch gelte, ändere sich zuweilen rasch. Es sei daher nicht richtig, den Stab über die Vorfahren zu brechen. «Dereinst werden Menschen, für das, was wir heute tun und lassen, Wiedergutmachung verlangen.»
Die Befürworter widersprachen: Es gehe nicht um Handlungen, die früher akzeptiert gewesen seien und heute als unangemessen gälten, sagte Karl Vogler (CVP/OW). Zu einem grossen Teil gehe es um strafrechtlich relevante Taten wie sexuellen Missbrauch. Thomas Müller (SVP/SG) stellte fest, rechtsdogmatisch hätten die Gegner vielleicht recht. Angesichts des erlittenen Leids sei das aber nicht das einzige Kriterium.
Zeichen der Anerkennung
Einig war man sich im Saal, dass eine «Wiedergutmachung» im eigentlichen Sinne nicht möglich ist. Die Anerkennung des Unrechts sei aber wichtig, sagten die Befürworter finanzieller Leistungen. Und Geld sei ein Zeichen dafür. Ausserdem könne Geld zumindest die Not etwas lindern - die seelische und materielle.
Für die Zahlungen plädierten auch SVP-Vertreterinnen und -Vertreter, unter ihnen Sandra Sollberger (BL), deren Vater Verdingbub war. Das Leid sei durch nichts gutzumachen, stellte sie sichtlich bewegt fest. Ihr Vater hätte das Geld wohl nicht gewollt. Sie setze sich dennoch dafür ein.
Für alle denselben Betrag
Im Vordergrund steht der indirekte Gegenvorschlag: Die Initianten haben in Aussicht gestellt, das Volksbegehren zurückzuziehen, sollte dieser ohne Änderungen angenommen werden. Mit dem Gesetz könnte den betroffenen Menschen schneller geholfen werden als mit der Initiative. Das sei angesichts des Alters vieler Opfer wichtig, hiess es im Rat. Es handelt sich indes nicht um den einzigen Unterschied zwischen Initiative und Gegenvorschlag.
Die Wiedergutmachungsinitiative verlangt Zahlungen im Umfang von 500 Millionen Franken. Die Höhe der Wiedergutmachung soll sich nach dem erlittenen Unrecht richten. Mit dem Gegenvorschlag stünden 300 Millionen Franken zur Verfügung, und alle Opfer würden den gleichen Betrag erhalten - wie viel genau, hängt von der Anzahl der bewilligten Gesuche ab.
Den tieferen Gesamtbetrag begründet der Bundesrat damit, dass er von einer tieferen Opferzahl ausgeht als die Initianten. Der Bund schätzt die Zahl der noch lebenden Anspruchsberechtigten auf 12'000 bis 15'000. Damit würde jedes Opfer 20'000 bis 25'000 Franken erhalten. Die Rechtskommission des Nationalrates schlägt vor, die Leistung auf 25'000 Franken zu begrenzen. (sda)