Therapieplätze für traumatisierte Flüchtlinge fehlen

Therapieplätze für traumatisierte Flüchtlinge fehlen

08.01.2018, 09:08

Krieg, Folter und Leid: Wenn Flüchtlinge Europa erreichen, sind sie häufig traumatisiert. Viele wären auf psychologische Hilfe angewiesen. In der Schweiz fehlt es jedoch an Therapieplätzen und am politischen Willen, die Kosten für geschulte Dolmetscher zu übernehmen.

Die Erinnerungen kehren in Albträumen zurück. Vor dem geistigen Auge spielen sich die immer gleichen Bilder ab - an den Krieg, an die Flucht, an die Vergewaltigung. Ein Geruch, ein Geräusch oder eine Stimme genügt. Menschen mit diesen Symptomen leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer starken Reaktion auf ein traumatisches Erlebnis.

Gemäss Schätzungen ist jeder zweite Flüchtling oder Asylsuchende traumatisiert. Obwohl verlässliche Zahlen für die Schweiz fehlen, ist bekannt, dass die Nachfrage das psychotherapeutische Angebot bei weitem übersteigt. Eine Studie im Auftrag des Bundes schätzte 2013, dass hierzulande 500 Therapieplätze fehlen. Die Folge sind Wartelisten von bis zu einem Jahr.

Angesichts steigender Asylzahlen und der Herkunft der Menschen dürfte sich der Engpass noch verstärkt haben. Diese Meinung teilen auch die Kantone. Gemäss Experten sind ankommende Asylsuchende zudem in einem gesundheitlich weniger guten Zustand als noch vor einigen Jahren.

Keine Worte für das Erlebte

Bis die Krankheit diagnostiziert wird, vergehen oft Jahre. Erinnerungen an das Trauma werden bewusst vermieden. Anders als eine äussere Verletzung ist seelisches Leiden auch weniger sichtbar und äussert sich häufig in körperlichen Beschwerden wie Kopf- oder Magenschmerzen.

«Es ist nicht selten so, dass Menschen, die zu uns kommen, zuerst gar nicht über das Erlebte sprechen wollen», sagt Oberarzt Matthis Schick. Das sei eine natürliche Reaktion: Niemand habe Lust, sich dem wieder auszusetzen. «Wir müssen den Menschen erklären, warum es wichtig ist, die Geschehnisse aufzuarbeiten.»

Schick leitet das Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer in Zürich, eine von fünf Therapiestellen in der Schweiz, die auf die Behandlung schwer traumatisierter Flüchtlinge spezialisiert sind.

Eine traumatisierte Person beginnt im Schnitt erst acht Jahre nach ihrer Ankunft in der Schweiz eine Therapie im Ambulatorium. Als Hauptgrund sieht Schick die Sprachbarriere. «Flüchtlinge können sich in der Grundversorgung in der Regel schlecht verständigen und viele Ärzte sind zu wenig sensibilisiert.»

Es kommt aber auch vor, dass Migranten auf Hilfe verzichten, weil die Erlebnisse mit Scham und Schuld verbunden sind, oder sie die Sanktionierung durch ihre Familie oder Verwandtschaft fürchten. Besonders stigmatisiert ist etwa sexuelle Gewalt, weil dem Opfer oft explizit eine Mitschuld gegeben wird.

Eigene Kinder dolmetschen für Eltern

Eine generell hohe Hürde stellt die Verständigung dar. In vielen Fällen muss der behandelnde Psychiater einen Dolmetscher beiziehen. Weil dies hohe Anforderungen an die Person stellt, hat das Ambulatorium in Zürich einen eigenen Dienst aufgebaut. Es schult Dolmetscher spezifisch und bietet Supervisionen an. Ermöglicht wird dies durch Drittmittel. «Gegenüber anderen Institutionen sind wir in dieser Hinsicht privilegiert», betont Schick.

Denn die Finanzierung von Dolmetschern im Gesundheitswesen ist ungelöst. Krankenkassen und andere Leistungserbringer sind gemäss einem Bundesgerichtsurteil nicht zur Kostenübernahme verpflichtet, weil Übersetzungen nicht als medizinische Behandlungen angesehen werden. Anders als in der Justiz werden deshalb vielerorts Laiendolmetscher eingesetzt. Manchmal müssen sogar die eigenen Kinder für ihre traumatisierten Eltern übersetzen.

Ungewollte Abtreibung

Dass Missverständnisse gravierende Folgen haben können, weiss Oberarzt Schick aus eigener Erfahrung. Einmal veranlasste ein Übersetzungsfehler eine Frau dazu, ihr Kind ungewollt abzutreiben. Für Schick ist der Einsatz unqualifizierter Dolmetscher so, als ob der Chirurg vor der Operation zum Patienten sagen würde: «Leider haben wir kein Skalpell für Sie, bringen Sie doch bitte Ihr Küchenmesser mit.»

Experten wie Schick führen aber auch die Kosten ins Feld. Für den Staat kommt es zwar kurzfristig günstiger, auf professionelle Dolmetscher zu verzichten. Auf lange Sicht führe eine ungenügende Behandlung traumatisierter Migranten aber zu viel höheren Kosten, sagt Schick. «Sie werden letztlich zu chronisch kranken Sozialhilfeempfängern.»

Bund prüft Finanzierung

Trotz dieser Ausgangslage haben sich die Kantone in der Vergangenheit zurückhaltend gezeigt. Zwar empfahl die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK) 2010 ihnen, Dolmetscherdienste als Dienstleistungen von öffentlichem Interesse in die Leistungsvereinbarungen mit den Spitälern aufzunehmen.

Die meisten Kantone würden heute dennoch keine Subventionen für Dolmetscherdienste im Gesundheitsbereich ausrichten, schrieb der Zürcher Regierungsrat im Dezember 2016 in einer Antwort auf ein Postulat aus dem Kantonsrat. Auf Nachfrage erklärt die GDK lediglich, sie habe keinen Überblick über die Situation in den Kantonen.

Allerdings haben Bund und Kantone unterdessen den Handlungsbedarf anerkannt. Das Bundesamt für Gesundheit prüft zurzeit, ob und wie die Finanzierung von Dolmetscherdiensten einheitlich geregelt werden kann. Den Kantonen schwebt dabei eine Lösung auf Bundesebene vor. Dies würde zu mehr Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit führen, argumentiert die GDK. (sda)

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